Die Sommer, die ich bei meinen Großeltern in Celle verbrachte, einer verrunzelten norddeutschen Kleinstadt voller Fachwerkhäuser mit einem Schloss in der Mitte, waren die schönsten meiner Kindheit. Meine Großeltern habe ich beide geliebt, aber in dieser Geschichte tut nur mein Großvater etwas zur Sache, der Held meiner Kindheit.
Ich mochte seine strenge Gutmütigkeit, seine unerschütterliche innere Ruhe, seinen nie versiegenden Ideenreichtum beim Erfinden neuer Ratespiele und seinen nach Kölnisch Wasser duftenden Kamm. Ich bewunderte, wie er die Augen zusammenkniff, wenn er bei unseren Ausflügen in die Ferne blickte, als suche der Kapitän eines Schiffes den Horizont nach feindlichen U-Booten ab.
Wenn ich als kleines Kind an seiner Hand in die Stadt ging, wo er noch in hohem Alter ein Büro unterhielt, in dem er seine Bücher schrieb, machte es Eindruck auf mich, dass er ständig gegrüßt wurde und offenbar hohes Ansehen genoss. Natürlich hielt ich ihn für allwissend.
Nach seinem Tod 1988 hatte ich jahrelang denselben Traum: Er ist gar nicht gestorben, lebt noch immer in Celle, wir hatten nur den Kontakt verloren, nun telefonieren wir und verabreden ein Wiedersehen. Manchmal habe ich diese Träume noch heute. Es sind glückliche Träume, weil ich darin wieder das Kind bin, das außer sowjetischen Atombomben und saurem Regen nichts fürchten muss.
Von Hitler zum Staatsanwalt ernannt
Ungetrübt ist die Erinnerung an meinen Großvater freilich nicht mehr. Ich war vierzehn, als er starb, und ahnte allenfalls ein wenig von dem, was ich heute weiß. Ich wusste, dass der Arztsohn Hans-Hermann Martens aus Lüneburg, Jahrgang 1904, in Heidelberg Jura studiert und Mensuren gefochten hatte.
Später erst lernte ich, dass er Mitglied in der SA und der NSDAP war und 1936 von Hitler zum Staatsanwalt ernannt wurde. Die Ernennungsurkunde mit Hitlers Originalunterschrift haben wir noch, weit unten in einem Stapel mit Familiendokumenten. Von 1941 an war er Offizier im Wehrmachtsführungsstab. Daran erinnert ein Kerzenständer mit den eingravierten Daten seiner Dienstzeit, den er zu seiner Verabschiedung aus dem Stab geschenkt bekam.
In seinen Memoiren, die meine Großmutter nach ihrem Tod 1997 als Teil der Erbschaft hinterließ, beschreibt er seinen Offiziersalltag im engsten Sperrkreis um Hitler und die Gespräche an dessen Mittagstisch, zu dem er mehrfach eingeladen war. Nach Stalingrad sah mein Großvater, was kommen würde, und ließ sich 1943 zur Truppe versetzen – nach Norwegen, wo er sich die höchsten Überlebenschancen ausrechnete.
Gegen Kriegsende war er Divisionsrichter an der Westfront und bei der Ardennenoffensive vor allem mit Fahndungsmeldungen nach „Ausreißern aus der Truppe“ befasst, wie er schreibt. Wie viele Todesurteile gegen ergriffene Deserteure mein Großvater gefällt hat, weiß ich nicht. Dass er welche gefällt hat, hat er meinem Vater einmal erzählt, der es mir kurz vor seinem eigenen Tod sagte.
Aus den kindlichen Erinnerungen an einen wunderbaren Großvater und diesen späteren Einsichten ergab sich ein innerer Zwiespalt, der sich nicht mehr auflösen lassen wird. Ich habe sozusagen Hitler lebenslänglich bekommen, mitsamt einem unstillbaren Interesse an allem, was die Deutschen der Generation meines Großvaters angerichtet haben: am Holocaust und den vielen anderen Verbrechen. Was trieb diese Generation an? Wie wurde sie, was sie war? Wie machte sie nach 1945 weiter? Wie erzog sie ihre Kinder?
Mein Großvater konnte in der Bundesrepublik, wie die meisten Juristen, die im NS-Regime Karriere gemacht hatten, seine Laufbahn fast nahtlos fortsetzen. Er wurde Senatspräsident beim niedersächsischen Landessozialgericht und schrieb Fachbücher, von denen einige zur juristischen Pflichtlektüre in ihrem Bereich wurden und ihm Honorare einbrachten, die für einen Hauskauf gereicht hätten. Er trat der SPD bei, deren Mitglied er schon in der Weimarer Zeit einige Jahre lang gewesen war, verließ die Partei aber wieder aus Wut über Brandts Ostpolitik.
Als ich unlängst mit dem Zug von Wien nach Wrocław fuhr, dachte ich besonders intensiv an meinen Großvater. Ich war zu einer Bar-Mizwa eingeladen, zum ersten Mal in meinem Leben. Die Einladung verdankte ich meinem Freund Benjamin Moser, einem in Utrecht lebenden texanischen Juden aus Houston, dessen Großvater 1899 in Breslau geboren worden war, dem heutigen Wrocław. Franz Moses kämpfte im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite und studierte nach der Niederlage Jura wie mein Großvater. Er änderte seinen Namen in Weimarer Jahren von „Moses“ in „Moser“, wurde 1933 aber natürlich trotzdem verfolgt. Kurz vor der sogenannten Reichskristallnacht gelang ihm 1938 die Flucht aus Deutschland.
In der Familie Moser gibt es eine Anekdote dazu, deren Authentizität bestenfalls unklar ist, die inzwischen aber so oft erzählt wurde, dass sie den Status einer innerfamiliären Tatsache erlangt hat. Demnach traf Franz Moser im September 1938 auf der Straße einen Schulfreund, der sich den Nazis angeschlossen hatte, ihn aber warnte, er solle sofort zum Bahnhof gehen und den erstbesten Zug raus aus Deutschland nehmen, ihm drohe Gefahr.
„Aber was ist mit meiner Mutter?“, soll Franz Moser gefragt haben, und der Freund habe geantwortet: „Keine Sorge, ich bringe sie zum Bahnhof.“ Der Beleg für diese vermeintliche Begebenheit war das Überleben von Franz Moser und seiner Mutter, denen tatsächlich die Flucht in die USA gelang, wo sie sich in Texas niederließen.
Mehr als 85 Jahre später steht Franz Mosers 1946 in Houston geborener Sohn Bert im Festsaal eines Hotels in Wrocław und hält ein Mikrofon in seiner erst leicht, dann immer deutlicher zitternden rechten Hand. Es ist der Vorabend der Bar-Mizwa seines Enkels Leo. Morgen wird Leo in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen. Aus religiöser Sicht ist er dann ein Gebotsmündiger, für sein Tun und Lassen selbst verantwortlich.
Die Familie hat Verwandte und Freunde zu einem Abendessen unweit der Synagoge eingeladen, in der die Feier stattfinden soll. „Wir sind in Wrocław, um deine Bar-Mizwa zu feiern. Ich möchte dir sagen, wie sehr es mich bewegt, dass ich an diesem für unsere Familie so besonderen Tag bei dir bin“, richtet sich der Großvater an den Enkel. „Es ist ein Anlass voller Bedeutung und Symbolkraft – und einer, zu dem ich dir ein wenig Familiengeschichte erzählen muss.“
Dann erzählt Bert Moser davon, wie sein Vater in Breslau aufwuchs und ein glückliches Leben führte, bis das Böse über ihn hereinbrach. „Er musste seinen Beruf, sein Eigentum, seine Sprache und sein Land aufgeben. Aber eine Sache, die er niemals aufgab, waren die Werte und Lehren des Judentums.“ Bert Moser berichtet von seiner eigenen Bar-Mizwa in Houston 1959: „Mein Vater war sehr stolz, dabei zu sein, als ich öffentlich verkündete, dass ich versuchen würde, die Ideale weiterzutragen, nach denen er sein Leben ausgerichtet hatte.“
Franz Moser, der sich in Amerika den Vornamen Frank zugelegt hatte, starb kurz darauf. „Aber ich finde immer noch Erleichterung in dem Gedanken, dass er Trost gefunden hat in dem Wissen, dass die Ideale, für die er stand, an die nächste Generation weitergegeben wurden und dass die lange Geschichte des Judentums überleben würde.“
Für Franz Moses aus Breslau, der zu Frank Moser in Houston hatte werden müssen, war die Bar-Mizwa seines Sohnes der Beleg dafür, dass Hitler nicht gewonnen hatte. Und nun kehrt ein Urenkel für seine Bar-Mizwa nach Breslau zurück. Oder zumindest an einen Ort mit den gleichen geographischen Koordinaten.
Das Gebetsbuch des Urgroßvaters
Bert Mosers rechte Hand mit dem Mikrofon zittert stärker, als er seinem Enkel ein Geschenk ankündigt: „Ich habe dir ein Gebetsbuch mitgebracht. Es enthält auch die Gebete, die du morgen rezitieren wirst.“ Er frage sich vielleicht, warum er ihm gerade dieses Gebetsbuch schenke, sagt Bert Moser dem Enkel, der allerdings ziemlich exakt so wirkt, als ob er sich das nicht frage. „Die Antwort“, sagt Bert Moser mit dem Gebetsbuch in der ebenfalls zitternden linken Hand, „liegt in der Widmung auf der Innenseite des Buches.“
Dort hatte Frank Moser seinem Sohn Bert am 7. März 1959 die besten Wünsche zu dessen Bar-Mizwa mit auf den Lebensweg gegeben. „Ich gebe dieses Buch nun an dich weiter“, sagt Bert Moser und ist sichtlich gerührt. Die Gäste im Festsaal des Hotels sind es auch. Beifall, Tränen.
Ob Bert Mosers Worte die oft unüberbrückbare Kluft zwischen den Generationen überwunden haben, lässt sich schwer sagen. Vielleicht versteht der Enkel die Bedeutung des Moments, vielleicht wird sie ihm aber auch erst in Jahrzehnten aufgehen, weil er jetzt lieber Minecraft spielen oder den Minnesota Timberwolves zuschauen würde, seinem Lieblingsteam in der NBA.
Doch darum geht es in diesem Moment nicht. Bert Moser hat die Worte an seinen Enkel natürlich auch an sich selbst gerichtet. An den Jungen, der er vor einem Menschenalter war. An den toten Vater und an das Knäuel aus unverständlichen und vermeintlich vorbestimmten Zufällen, das man mangels eines besseren Wortes Schicksal nennt.
Am nächsten Tag ist es heiß in der Synagoge „Zum Weißen Storch“, doch jemand aus der Moser-Familie hat in der Altstadt von Wrocław Fächer aufgetrieben, die wenigstens die Illusion von Abkühlung verschaffen. Die 1827 eingeweihte Synagoge wurde bei den Pogromen von 1938 nicht in Brand gesteckt, weil die Nationalsozialisten fürchteten, ein Feuer in diesem dicht bebauten Teil der neuntgrößten Stadt Deutschlands könnte auch auf Häuser von Ariern übergreifen. Im polnischen Kommunismus, als die antisemitische Kampagne von 1968 dem verbliebenen Judentum der Stadt den letzten Stoß versetzte, wurde das Gebäude verstaatlicht und verfiel.
Heute aber werden in dem renovierten Bau wieder Gottesdienste gefeiert. Natürlich ist es nicht mehr dieselbe Synagoge in derselben Stadt. Die Einwohner Wrocławs halten ihre Stadt so selbstverständlich für polnisch, wie die Generation von Franz Moses sie für deutsch hielt. In der Familie Moser sind Breslau und Wrocław aber immer noch zentrale Bezugspunkte. Es war vor allem Leos Mutter Laura Moser, die ihren Sohn überredet hat, seine Bar-Mizwa hier zu feiern.
Auch der Kantor Itamar Cohen, der die religiöse Zeremonie leitet, ist über seine Vorfahren mit Breslau verbunden. Er wurde zwar in Jerusalem geboren, wuchs dort auf und zog später nach Tel Aviv, doch eine Urgroßmutter von ihm trat in Breslau vom Katholizismus zum Judentum über, höchstwahrscheinlich sogar in der Synagoge „Zum Weißen Storch“.
Cohen hat eine schöne Stimme, die uralten hebräischen Melodien hallen durch die Synagoge, als sei es nie anders gewesen. Dennoch muss ich, während der Kantor singt oder aus der Thora vorliest, an einen Satz von Fernando Pessoa denken, der über sich schrieb, er sei zu einer Zeit geboren worden, in der die Mehrheit der jungen Leute den Glauben an Gott aus dem gleichen Grund verloren hatte, aus dem ihre Vorfahren ihn hatten – ohne zu wissen warum.
Auch die Mosers sind schon seit Generationen keine gläubige Familie mehr. Ihr Judentum hat mit Tradition zu tun, mit dem Bewahren einer Identität, die sich auch durch das definiert, was man nicht ist und nicht sein will. Das wird auf der abendlichen Feier deutlich, die sich an die Bar-Mizwa anschließt.
Ich sitze an einem Tisch mit Kantor Cohen und meinem Freund Benjamin, Leos Onkel. Irgendwann zwischen Vorspeise und Hauptgang erfahre ich von Itamar Cohen, dass er Israel schon vor vielen Jahren verlassen hat, in Berlin lebt und am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam zum Kantor ausgebildet wurde. Warum er aus Israel ausgewandert sei, frage ich ihn und merke an seiner Reaktion sofort, dass er das nicht für eine kluge Frage hält. „Weil es ein schreckliches Land ist“, antwortet er in einem Tonfall, der Verwunderung über die Frage nicht nur andeutet.
Der Kantor beklagt Rassismus in Israel
Es gebe in Israel eine Atmosphäre des Nationalismus und des Rassismus, sagt der Kantor und erzählt von seinem früheren Leben in Tel Aviv. „In unserem Viertel hatte jemand Plakate aufgehängt mit der Forderung, dass Juden nur Juden heiraten sollten.“ Er habe diese Plakate als anstößig empfunden. „Deutschland den Deutschen klingt doch auch wirklich übel, nicht wahr?“
Als er einen Teil eines Plakates abgerissen habe, sei eine alte Frau auf ihn zugekommen und habe ihn des Vandalismus bezichtigt. Dabei seien die rassistischen Parolen doch der eigentliche Vandalismus gewesen, findet Kantor Cohen. Er erzählt von Geschäften in Tel Aviv, die nachts mit hetzerischen Parolen gegen Araber besprüht wurden, und von anderen Vorfällen, die ihn dazu brachten, Israel zu verlassen.
Als wir später länger sprechen, nennt Cohen auch die Siedlungspolitik als einen Grund dafür, dass er nicht mehr in Israel habe leben wollen: „Sie bauen ein Haus auf palästinensischem Boden und schicken das israelische Militär, um das Haus zu schützen. Dann werden mehr Häuser gebaut, eine Siedlung entsteht, Straßen werden besetzt und Felder zerstört. Die Regierung ist formal dagegen, aber selbstverständlich werden solche Häuser alle an Strom und Wasser angeschlossen und von der Armee beschützt.“
Es sei falsch, aus der Thora das Recht abzuleiten, Land zu besetzen, doch einige Rabbis predigten genau das: „Alles wird dann einfach und klar. Wir sind die Guten, die anderen die Bösen.“ Es sei aber gefährlich, aus der Tatsache, dass man Land kontrolliere, auf die eigene moralische Überlegenheit oder göttliche Auserwähltheit zu schließen. Auch solche Überlegungen hätten dazu beigetragen, dass er Kantor geworden sei: „Ich bin nicht weniger jüdisch als andere.“
Ich hatte mir vor der Reise vorgenommen, mich an politischen Gesprächen über Israel, sollte es zu solchen kommen, keinesfalls zu beteiligen. Als Deutscher, zumal als Nachfahre von jemandem, der zwischen 1933 und 1945 etwas mehr war als nur ein kleines Rad im Getriebe, steht mir das nicht zu. Genau das sage ich Benjamin, als wir später auf der Terrasse des Hotels stehen und er mich fragt, was ich von den Ansichten des Kantors halte.
Meine zurückhaltende Antwort, dass mir dazu kein Urteil zustehe, stößt auf Benjamins Missbilligung. „Viele Deutsche sind großartig darin, genau die falschen Lehren aus dem Holocaust zu ziehen – jene, die für euch am bequemsten sind und die euch nichts kosten. ‚Nie wieder‘ bedeutet nicht, dass man dagegen ist, dass 1943 Juden aus Breslau deportiert wurden. Es ist leicht, gegen etwas zu sein, was vor achtzig Jahren geschehen ist. ‚Nie wieder‘ muss heute gelten, wenn es etwas bedeuten soll.“
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich Benjamin richtig verstanden habe, aber er ist auch noch nicht fertig: „Der Holocaust passiert nicht im heutigen Deutschland. Aber in Israel wird heute massenhaft Unrecht begangen, und zwar von Juden an Palästinensern. Wer dazu schweigt, hat die Lehre des ‚Nie wieder‘ nicht verstanden.“
Ich werde meinem Vorsatz der politischen Enthaltsamkeit untreu und wende ein, man könne doch den Terror der Hamas nicht einfach ausblenden. Benjamin scheint auf eine solche Antwort nur gewartet zu haben: „Das Erste, was euch Deutschen einfällt, wenn man als Jude auf Verbrechen Israels hinweist, ist die Frage, ob man auch den Terror der Hamas verurteile.“ Natürlich verurteile er den. „Aber wer fünfzig Jahre lang zwei Schachteln Zigaretten am Tag raucht, sollte sich nicht über eine Krebsdiagnose beklagen. Es geht hier auch um Ursachen und Symptome.“
In Deutschland werde angesichts des blutigen Terrors der Hamas viel zu oft der Rahmen ausgeblendet, in dem sich dieser Terror vollziehe, behauptet Benjamin. Der Rahmen, das seien die seit Jahrzehnten andauernden israelischen Verbrechen an den Palästinensern und die planvolle Vertreibung Hunderttausender Araber aus dem heutigen Israel.
„Die Verteidiger dieser Politik erinnern mich an Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre, der noch für die übelsten Verbrechen des Stalinismus eine ideologische Rechtfertigung fand. Aber wer solche Untaten nicht ablehnt, ganz egal von und an wem sie begangen werden, dessen Gerede von ‚Nie wieder‘ ist nichts wert.“
Er als Jude, setzt Benjamin seine Suada fort, empfinde es keinesfalls als antisemitisch, sondern als geboten, wenn angeprangert werde, dass Israel systematisch Unrecht verübe. „Meine Großmutter war immer zutiefst beschämt, wenn ein Jude als Betrüger oder Verbrecher in den Nachrichten auftauchte. Sie sagte dann, dieser Mensch sei ‚eine Schande für die Juden‘.“
Für ihn, sagt Benjamin, sei das heutige Israel eine solche Schande. „Aber wenn ich so etwas in Deutschland öffentlich sagen will, kommt sofort irgendein Florian oder eine Ingeborg und behauptet, das sei antisemitisch und dürfe nicht gesagt werden. Ich liebe es, als Jude von Deutschen des Antisemitismus bezichtigt zu werden“, spottet Benjamin, der gut Deutsch spricht und die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt.
Ich frage mich, ob verletzter Stolz eine Rolle spielt, wenn er so etwas sagt. Benjamin hat den Pulitzerpreis erhalten, veröffentlicht seine Essays in der „New York Times“, der „Washington Post“ und im „New Yorker“, musste aber in Deutschland die Erfahrung machen, dass Texte von ihm als zu radikal und deshalb undruckbar abgelehnt wurden. Die Nachfahren des Volkes, das seine Vorfahren ausrotten wollte, zensieren ihn – so scheint er das zu empfinden.
Benjamin, dem ich von mir und meinem Großvater oft erzählt habe, sagt: „Wenn du glaubst, wegen deiner Familiengeschichte schweigen oder Israel unterstützen zu müssen, hast du genau die falsche Lehre gezogen.“ Der Nachtisch wird aufgetragen, wir gehen von der Terrasse wieder an unseren Tisch. Es gelingt uns, das Gespräch auf Unverfängliches zu lenken. In Norddakota werden immer wieder Menschen von Bisons angegriffen. Utrecht ist eine gute Stadt, um Hunde zu halten. Nirgends in Europa sind die Menschen eleganter gekleidet als in Madrid. Und so weiter.
Am nächsten Tag verlasse ich Breslau, bereichert von der eindrucksvollen Zeremonie in der Synagoge, verwirrt von den Gesprächen danach. Wieder zu Hause in Wien entdecke ich zufällig eine Parfümerie, die Kölnisch Wasser führt. Dabei dachte ich, es werde längst nicht mehr hergestellt. Ich kaufe ein Flakon, öffne es gleich vor dem Geschäft und rieche daran. Ich fühle mich jung. Die Verwirrung bleibt.