Hermann Ludwig ist 84 Jahre alt. Fast sein ganzes Leben lang hat er für Thyssenkrupps Stahlsparte gearbeitet. Thyssenkrupp – das ist für ihn mehr als bloß ein ehemaliger Arbeitgeber, der aktuell tief im Umbau, Richtungsstreit und Managementchaos steckt. Thyssenkrupp ist für Hermann Ludwig eher eine Art Familie.
Stahl ist emotional, sagen viele im Ruhrgebiet, aber warum eigentlich? „Es war so eine Kameradschaft.“ Alle hätten gewusst, wenn einer heiratete, ein Kind zur Welt kam, ein Angehöriger schwer erkrankte. Für Hermann Ludwig sind Thyssenkrupp und die Familie noch auf andere Weise verbunden: Sein Sohn und sein Enkel arbeiten auch für das Unternehmen. Drei Generationen, ein Beruf, lauter Konstanten und doch: so viel Wandel.
Der schattige Platz unter den Bäumen, auf dem Hermann Ludwig an diesem eiskalten Wintertag steht, ist heute Teil des Landschaftsparks Duisburg Nord im Stadtteil Meiderich. Die rund 180 Hektar große Fläche rund um das ehemalige Meidericher Hüttenwerk beherbergt alte Industriedenkmäler – rostbraun –, eine Parklandschaft – sattgrün –, Veranstaltungsflächen – abends knallbunt beleuchtet – und einen Kletterpark – steingrau.
Viele der Hallen und Fabrikgebäude, in denen Hermann Ludwig einst arbeitete, sind erhalten geblieben und zu Attraktionen für Freizeithungrige geworden. Auch der „Hochofen 5“, an dem der Betriebsschlosser schon so manches Ersatzteil verschraubt hat, gehört dazu mit seiner 70 Meter hohen, für Besucher zugänglichen Aussichtsplattform. Als Hermann Ludwig 1993 in Frührente ging, war Hochofen 5 stillgelegt. Die Website des Landschaftsparks nennt zur Begründung „Überkapazitäten auf dem europäischen Stahlmarkt“.
Klingt ein wenig wie heute, nur das „europäisch“ ist einem „global“ gewichen. Jetzt herrschen in Thyssenkrupps Stahlsparte wieder Überkapazitäten, diesmal ausgelöst durch Billigkonkurrenz aus China. Jetzt sollen wieder Standorte dichtmachen, im Siegerland, vielleicht auch im Duisburger Süden. Jetzt sollen wieder Tausende Arbeitsplätze weg; diesmal soll die Belegschaft von heute 27.000 Menschen auf 16.000 bis zum Jahr 2030 schrumpfen.
„Die Lage ist kritisch“
„Die Lage ist kritisch, und ohne entschlossenes Gegensteuern kann sie schnell existenzbedrohend werden“, so fasste es der aktuelle Thyssenkrupp-Konzernchef Miguel López zusammen, der als knallharter Sanierer gilt. Seitdem er 2023 das Zepter bei Thyssenkrupp übernommen hat, sind reihenweise Manager gegangen oder entlassen worden, aus der Stahlsparte und darüber hinaus.
Branchenkenner munkeln, es herrsche Furcht. Andere sagen, ohne Durchregieren könne es nichts mehr werden mit der Gesundung des kranken Stahlriesen. Den Stahlarbeitern ist der oberste Chef eine regelrechte Hassfigur; während einer der jüngsten Protestaktionen trugen sie eine als López ausstaffierte Strohpuppe symbolisch in einem Sarg zu Grabe. Stahl ist emotional, sagen viele im Ruhrgebiet.
Hermann Ludwigs Sohn Peter ist 58 Jahre alt, trägt Schnauzbart, Brille und ein gemütliches Bäuchlein vor sich her. Seine Leidenschaft ist die Gewerkschaft, bei Thyssenkrupp ist er IG-Metall-Vertrauensmann. Wahlspruch: „Ich lasse meine Kolleginnen und Kollegen nicht im Regen stehen.“ Er ist meist dabei, wenn Demos oder Kundgebungen stattfinden, etwa vor gut zwei Wochen, als sich 2000 IG-Metaller aus Nordrhein-Westfalen im Städtchen Kreuztal im Siegerland trafen, wo ein Werk schließen soll.
Peter Ludwig bezeichnet sich und seine engeren Betriebsräte-Freunde als das „A-Team“ der Stahl-Arbeitnehmer. Sie sind die Engagierten, diejenigen, die jederzeit ein frisch gewaschenes rotes Shirt mit Gewerkschaftslogo im Schrank hängen haben. Sie sind der harte Kern, der seit vielen Monaten in wechselnden Schichten im Zelt der „Mahnwache“ vor dem Tor 1 des Stahlwerks an der Duisburger Friedrich-Wilhelm-Straße ausharrt.
„Papa hat hier nur die guten Zeiten erlebt“
Wie sein Vater ist auch Peter Ludwig gelernter Betriebsschlosser und angestellt bei Thyssenkrupp – fast sein ganzes Leben lang, bis heute. „Papa hat hier nur die guten Zeiten erlebt“, sagt er mit einem Seitenblick auf seinen Vater. Dann wandern seine Augen in Richtung des Hochofen-Denkmals im Landschaftspark: „Ich hab hier auch noch ein paar Jahre gearbeitet, bevor sie das alles dichtgemacht haben.“ Ein paar gute Jahre seien das gewesen, auch für ihn, der eigentlich Elektriker hatte werden wollen, am liebsten „in einer ganz kleinen Bude“. Dafür aber reichte es nicht.
Die Einstellungstests damals, als seine Babyboomer-Generation in den Arbeitsmarkt drängte, seien hart gewesen. „Ich hatte nie genügend Punkte.“ Sein Vater schwärmte von der Sicherheit, die Thyssen ihm bieten könne; am Ende war Peter Ludwig überzeugt, am Ende lernte auch er den Beruf. Doch die Sicherheit währte nicht lang. Als 1985 die Produktion in Meiderich endete, sei das der erste Schritt des „Abschmelzens eines Weltkonzerns“ gewesen. Aber nur ein kleiner.
Seither folgten viele Schritte, seither ist Peter Ludwig mit Thysssenkrupp durch einige Krisen gegangen. Nach der Schließung des Hochofens im heutigen Landschaftspark kam er an den Standort Duisburg Ruhrort, der an die heutige Arcelor Mittal verkauft wurde. Tief im Gedächtnis geblieben sind ihm die Proteste rund um die Fusion von Krupp-Hoesch mit Thyssen in den Neunzigerjahren.
„Ich war auf der Brücke der Solidarität dabei. Es war ein sehr kalter Winter. Aber es gab dieses Wir-Gefühl. Zusammen mit den Stahlarbeitern von Krupp und ihren Familien haben wir auf der Brücke gestanden, und wir haben Aufsehen erregt.“ Das habe sich gut angefühlt, auch wenn es am Ende gescheitert sei. „Daran war der Cromme schuld, den alle gehasst haben“, sagt Peter Ludwig. So viel Solidarität.
Die „Arche Noah“ im Duisburger Norden
Mit jeder Krise seien die Dinge ein kleines Stückchen schlechter geworden. Mit jeder Umstrukturierung gingen Stellen verloren. Das große Stahlwerk im Duisburger Norden mit seinen vier Hochöfen sei immer wie eine „Arche Noah“ gewesen, habe immer den wichtigen Teil der Belegschaft irgendwie aufgenommen – auch ihn selbst. Nun allerdings, nun ist die Rede davon, dass zwei der vier Hochöfen runtergefahren werden sollen.
Ersatzweise soll künftig eine milliardenteure, staatlich subventionierte Grünstahlanlage produzieren, die frühe Bauphase ist angelaufen. Ihre Kapazität wird kleiner sein. In den Worten von Konzernchef López geht es darum, „zukunftsorientiert“ zu werden, „wettbewerbsfähig“, „grün“. In den Worten von Peter Ludwig schwingt Angst mit vor dieser Zukunft. Er glaubt, López „schießt gegen uns“.
Angst – auch so eine Emotion. Sie zieht sich quer durch die jüngere Thyssenkrupp-Vergangenheit seit den Fehlinvestitionen in Stahlwerke in Amerika und Brasilien von 2007 an. Peter Ludwig beschreibt diese Phase als eine Zeit der Dauerverunsicherung. „Gefühlt hatten wir alle paar Jahre einen neuen CEO.“
„Früher waren wir stolz, heute schämen wir uns“
Die hohen Erlöse aus dem Verkauf der lukrativen Aufzugsparte waren schnell aufgezehrt, die Fusion mit Tata Steel aus Indien scheiterte, die Idee einer „Group of Companies“, eines Mischkonzerns mit mehreren unabhängigen Einheiten, ging mit ihrer Schöpferin Martina Merz, die von 2019 bis 2023 Vorstandsvorsitzende war. „Ich glaube, die Frau Merz hatte ein gutes Herz“, sagt Peter Ludwig. Und López? Hat der kein gutes Herz? „Wer uns ans Fell will, der verdient kein Lob, oder?“, sagt Ludwig nach kurzem Überlegen. Später schiebt er nach: „Früher waren wir stolz, heute schämen wir uns.“
Pascal Ludwig schämt sich nicht. Er ist 22 Jahre alt, Peter Ludwigs Sohn und Hermann Ludwigs Enkel. Dritte Generation Thyssenkrupp. Mit 18 hat er in der Stahlsparte eine Ausbildung angefangen als „Industriemechaniker“. Es ist das moderne Wort für den alten Betriebsschlosser, am Ende fast der gleiche Beruf wie schon der des Vaters und Großvaters. Pascal Ludwig findet, er passt zu ihm, er ist technisch begabt, große Maschinen faszinieren ihn.
Anders als Vater und Großvater mit ihren Hauptschulabschlüssen hat er Abitur gemacht. Aber ein Studium wirkte ihm zu theoretisch, und von Thyssenkrupp bekam er als Erstes eine positive Rückmeldung. Mit dem angebotenen Gehalt hätten andere Arbeitgeber nicht mithalten können. „Mach et“, habe ihm sein Vater in schönem Duisburger Slang geraten. Da habe er zugegriffen. „Vielleicht war es auch ein Stück Bequemlichkeit.“
Emotional ist Stahl für Pascal Ludwig kaum. Die Stahlkrise, der Strukturwandel, die immer neuen Streits in seinem Unternehmen – er lässt all das vorüberziehen. „Ich lese keine Zeitung.“ In der IG Metall ist er Mitglied, doch an der Mahnwache lässt er sich nur selten sehen. Dafür bleibe auch kaum Zeit, lieber lernt er für seine Weiterbildung zum Maschinenbautechniker, eines von vier Jahren Abendschule hat er schon hinter sich.
„Ich glaube auch nicht, dass ich hier in Rente gehen werde“
„Meine Freunde fragen mich schon ab und zu, ob Thyssenkrupp bald zumacht oder so“, sagt er mit leichtem Schulterzucken. „Ich glaube auch nicht, dass ich hier in Rente gehen werde.“ Schön fände er es zwar schon, wenn die Zeiten noch so wären, aber das seien sie nun mal nicht. Angst vor der Zukunft? „Nein.“
Sein Vater schätzt es anders ein. Die Unternehmenseinheit, für die Pascal und er arbeiten, kümmert sich um alle werksinternen Leitungen für Gase, im Hochofenprozess wird mit Sauerstoff angereicherte Luft benötigt. Auch falls der Umbau zu einer klimafreundlicheren Stahlerzeugung gelingen sollte, bräuchte es für die neue Grünstahlanlage Erdgas und perspektivisch Wasserstoff – und damit Menschen, die sich um die entsprechenden Leitungsnetze kümmern.
Aber dass ihre Jobs künftig nötig sein werden – das beruhigt Peter Ludwig nicht. 6000 Stellen sollen bis zum Jahr 2030 ausgegliedert sein – „eine schlechte Nachricht“. Seine Unternehmenseinheit könnte auf die Outsourcingliste geraten. Für sich selbst und seine Kollegen hofft er auf „vernünftige Verträge“, falls sie ausgegliedert werden. Für seinen Sohn wünscht er sich, „dass er noch möglichst lange bleiben kann“, dass er seine Weiterbildung beendet. Er fürchtet aber, dass „die Zeit läuft“.
Immer noch an der Mahnwache dabei
Das sieht auch sein Vater so. Seit Jahrzehnten raus bei Thyssen, aber an der Mahnwache vor Tor 1 ist Hermann Ludwig regelmäßig anzutreffen. Nun sitzt er bei Wind und Wetter unter dünnen weißen Planen, geschmückt mit IG-Metall-Logo. Nebenan in der Werkseinfahrt hat die Gewerkschaft drei Strohpuppen mit Stahlarbeiter-Helmen platziert. „Werde ich arbeitslos?“, steht auf einem Schild. „Jeder dritte kann seinen Job verlieren“, ist auf dem Schild der zweiten Puppe zu lesen. Und auf dem dritten steht: „Bin ich der dritte? Oder du?“
Auch damals an dem legendären Sommertag, als sieben hochrangige Thyssenkrupp-Stahlmanager im Streit über die Zukunft der Sparte zurücktraten, war Hermann Ludwig mit an der Mahnwache. Da war es so warm, dass sogar ein Eiswagenbesitzer vorbeischaute. Peter Ludwig baute vor dem Verwaltungsgebäude mit dem „A-Team“ Pavillons, Biertische und eine Holzbarrikade auf, stapelte Scheite in Tonnen, die Kollegen zündeten sie an. Hermann Ludwig mit seinen 84 Jahren wurde es nach ein paar Stunden buchstäblich und sinnbildlich zu heiß. „Aber ich verfolge das alles genau“, sagt er. „Ich lese alles über den López.“
Für ihn ist über die Jahre viel verloren gegangen, was sich mit der Arbeit verband. „Die ersten Jahre als Schlosser am Hochofen – das war richtig viel Staub und Dreck. Manchmal hab ich abends noch auf dem Werk gebadet und dann zu Hause noch mal – so schwarz war ich. Aber es waren auch die schönsten Jahre.“
Die Kollegen von damals sind schon tot
Warum? „Da war einfach dieser Zusammenhalt.“ Und die Vergünstigungen. Über Thyssenkrupp bekam er seine Familienwohnung, bezahlbar, großzügig, gut gelegen, regelmäßige Gesundheitschecks beim Betriebsarzt. Dazu kamen Freundschaften, Kegelrunden mit Kollegen. Kommen noch andere aus dieser Zeit mit ihm zur Mahnwache heutzutage? „Nein“, sagt Hermann Ludwig. „Die sind schon alle tot.“ So lang ist das her.
Gesundheitschecks gibt es heute noch – und auch sonst sind Thyssenkrupp-Mitarbeiter gut versorgt. Peter Ludwig schwärmt von der „Wahlarbeitszeit“, die für seinen Bereich gilt. Die Basis bilde eine 34-Stunden-Woche, die er nach Belieben auf 35 Stunden aufstocken oder auf 33 reduzieren kann. Stockt er auf, bekommt er mehr Geld, reduziert er, schrumpft das Gehalt, dafür gebe es dann sechs zusätzliche Urlaubstage im Jahr.
Eine seiner großen Sorgen gilt seinem Jubiläumsbonus, der in zwei Jahren winkt, wenn er die 45 Jahre Betriebszugehörigkeit voll hat. Zweieinhalb Monatsgehälter – nach seiner Rechnung käme er auf rund 10.000 Euro netto. Das sei ein Batzen Geld, dafür könne man sich streiten. Peter Ludwig findet das völlig legitim, schwierige Zeiten auf dem Weltmarkt hin oder her. 45 Jahre Arbeit für dasselbe Unternehmen – das sei doch wirklich eine lange Zeit der Treue, so was gebe es doch heute gar nicht mehr.
Ruhrgebiet ohne Stahl? „Das ist ein No-Go für mich“
Und jenseits des Materiellen? „Die Herzlichkeit ist schon lange weg“, sagt Peter Ludwig. Andererseits: „Wir sind hier ja mitten im Ruhrgebiet. Und man hat uns ja auch schon die Kohle genommen. Das Ruhrgebiet ohne den Stahl – das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Das ist ein No-Go für mich.“
Selbst sein Sohn Pascal sagt, ein Duisburg ohne Stahl sei unvorstellbar. „Voller Arbeitslosigkeit, schätze ich. Ich glaube, ich würde wegziehen.“ War er denn auch da, Ende August, am Tag der brennenden Fässer, als rund tausend Kollegen auf der Straße „Stahl ist Zukunft“ riefen? „Nein.“ Warum nicht? „Gute Frage.“
Peter Ludwig erinnert das daran, dass nicht viele junge Menschen vorbeikommen an der Mahnwache. Es gebe noch immer so einige, die überhaupt nicht verstanden hätten, was auf dem Spiel steht, sagt er. Es seien immer dieselben, die sich engagierten, die Proteste organisierten und dann wieder irgendwo Zeltpavillons oder Biertische aufbauten. „Dabei müssen wir verstehen: Früher gab es immer diese Arche Noah.“ Mit einem Mal scheint auch das lang her. „Jetzt gerade, jetzt droht die Arche selbst zu sinken.“