In bewusster Abgrenzung zu den auf Richard Wagner fixierten Bayreuther Festspielen möchte sich das junge, von dem Sänger und Regisseur Max Emanuel Cenčić vor vier Jahren ins Leben gerufene Festival Bayreuth Baroque „der Opera seria im Markgräflichen Opernhaus“ widmen. Das mit dieser Eingrenzung umrissene Repertoire hatte seine große Zeit im frühen und mittleren achtzehnten Jahrhundert. Mit Georg Friedrich Händels Dreiakter „Flavio, Re de’ Longobardi“ wurde die neue Saison jetzt erstmals nach Corona im nunmehr voll besetzten Welterbe-Gebäude eröffnet.
Das um 690 nach Christus spielende Textbuch von Nicola Francesco Haym erzählt vordergründig von recht sittenlosen Zuständen am Hof des jungen Langobardenkönigs Flavio, nimmt jedoch auch Skandale britischer Politik zu Händels Zeit aufs Korn. Am Hof Flavios geraten die beiden Staatsdiener Lotario und Ugone aneinander. Betroffen von diesem Konflikt sind Lotarios Tochter Emilia und Ugones Sohn Guido, die kurz vor ihrer Hochzeit stehen.
Da der von Lotario im Suff geohrfeigte Ugone sich für ein Duell zu alt fühlt, soll Guido die Familienehre retten und gegen den Vater seiner Braut antreten. Nachdem der Kampf für Lotario tödlich ausgeht, möchte Emilia vorübergehend nichts mehr von Guido wissen. Währenddessen bändelt Flavios Adjutant Vitige mit Ugones Tochter Teodata an, auf die es aber auch der von seiner Gattin gelangweilte König abgesehen hat. Erst am Ende gefällt sich der dekadente Monarch in der Rolle des weisen Herrschers und führt die verliebten Paare zusammen.
Alltag in feudalen Gemächern
Das vor genau dreihundert Jahren am Londoner Haymarket-Theater aus der Taufe gehobene Stück bietet also jede Menge Ironie und Satire, persifliert aber auch die Konventionen der Opera seria. Dabei kommt es zu absurd überdrehten Situationen, die zwischen schwärzester Tragik und greller Verulkung changieren. Max Emanuel Cenčić hat als künstlerischer Leiter von Bayreuth Baroque nach fulminant präsentierten Raritäten der Seria-Meister Nicola Porpora und Leonardo Vinci in den Vorjahren nun erstmals eine Händel-Oper auf das Programm des Festivals gesetzt und sie wiederum selbst inszeniert. Erneut ist ihm dabei eine intelligente, in der Personenführung sorgfältig ausgearbeitete, fast filmisch wirkende Umsetzung von Text und Musik in Aktionen und Bilder gelungen.
Barock gekleidete Pagen sind auf Helmut Stürmers Bühne als dienstbare Geister für die nur äußerlich feine Gesellschaft im Einsatz und schieben bei Zwischenmusiken zu Romain De Lagardes magischer Beleuchtung unauffällig auch prächtige Kulissen umher. Corina Grămoșteanu hat sich bei ihren Kostümen von Karikaturen aus Händels Zeit inspirieren lassen. Gezeigt wird der Alltag in feudalen Gemächern hinter der Fassade öffentlicher Repräsentation. Man ist unter sich. Junge Adlige beschimpfen sich beim Billard, Lotario platzt besoffen in den schöngeistigen Vortrag eines französischen Lieds, begrapscht die singende Hofdame und sprengt die Veranstaltung.
Die Vorgänge auf der Bühne sind stets minutiös auf die Musik abgestimmt. Cenčić hat das singende Personal gemäß einer Vorlage von Hayms Libretto durch Schauspielrollen erweitert, die ein besseres Verständnis des Geschehens ermöglichen. Ein Kirchenmann, ein zwergwüchsiger Höfling, dralle Mätressen oder eine Anstands-Lady mit Hasenohrenkopfputz sorgen professionell für witzige, manchmal surreal ausartende Szenen.
Großartig zelebriert sie ihre Verwirrung
Als diesjähriges Residenzorchester des Festivals steuert Concerto Köln unter der soliden Leitung von Benjamin Bayl einen elastisch kraftvollen, farbreichen, feinnervig strukturierten Soundtrack bei, der sich als wichtiger Mitspieler in Cenčićs Opernfilm behauptet. Julia Lezhneva stellt als Emilia von Anfang an ihre sängerische und darstellerische Extraklasse unter Beweis. Die einst von der berühmten Sopranistin Francesca Cuzzoni kreierte Partie ermöglicht ihr eine subtile vokale Charakterstudie entlang von Händels kunstvoll verzierten Kantilenen. Großartig zelebriert sie ihre Verwirrung, stolpert in irrlichternde Koloraturen, tastet sich herzerweichend durch die Register und sucht einen Ausgang aus melodischen Labyrinthen, spricht sich Mut zu mit silberstrahlender, blank funkelnder Stimme, um sich bei der nächsten Bravournummer an ihrer Virtuosität zu berauschen.
Nicht minder eindrucksvoll meistert Cenčić die vormals vom Starkastraten Senesino gesungene Partie Guidos. Der ukrainische Countertenor Yuriy Mynenko klagt sich mit der ursprünglich als Hosenrolle angelegten Partie des Vitige grandios durch alle verzweifelten Phasen der Eifersucht. Sein junger französischer Kollege Rémy Brès-Feuillet bezaubert als launischer, vom Regieren und von staatlichen Pflichtübungen im Bett überforderter Flavio mit phänomenalem Gesang und hinreißendem Spiel. Monika Jägerová imponiert als Teodata mit kernig satten Alttönen. Streten Manojlovic als basskräftiger Lotario und der Schweizer Tenor Fabio Trümpy als Ugone schenken sich als alte Streithähne auch stimmlich nichts.
Am Tag nach der Premiere trat der Countertenor Valer Sabadus erstmals bei Bayreuth Baroque auf. Wer hätte gedacht, dass ein Abend ausschließlich mit Opernarien von Carl Heinrich Graun mit stehenden Ovationen bejubelt werden würde! Begleitet vom hellwachen polnischen (oh!)-Orkiestra historyczna unter der präzisen Leitung der Geigerin Martyna Pastuszka gelang Sabadus eine sensationelle Ehrenrettung des Kapellmeisters und Kompositionslehrers Friedrichs des Großen.