Dies ist ein Tagebuch mit nummerierten Einträgen und Markierung der Jahreszeiten, aber ohne Daten. Es beginnt im Winter, am offenen Grab der Mutter mit der Frage: Was ist Trauer? In Erinnerung an den Jahreswechsel in der vergangenen Nacht und den Anblick des Feuerwerks über dem Kölner Dom folgt gleich auf der nächsten Seite die Antwort: „Das ist Trauer, wenn das Glück, das es doch gibt, nicht mehr zu einem durchdringt. Du siehst es, es ist da, und du verbeugst dich davor oder schüttelst ihm die Hand wie einem Besucher am Grab, mehr aber auch nicht.“
Es wird im Verlauf des Buchs noch weitere Beschreibungen der Trauer geben. Dass die eigene Trauer einen hinüberzieht zu anderen, die ebenfalls trauern, zum Beispiel. Und immer wieder wird der Text ums Sterben, um den Tod, die Toten kreisen, immer wieder von Totenwaschungen und davon, wie leicht die Körper werden, wenn die Seele sie verlassen hat, die Rede sein, von Beerdigungen, von den Kindern, die anders trauern als die Eltern, von Grabreden, Friedhofsbesuchen und schließlich, am Tag mit der Nummer 305 in Beirut, von der Erkenntnis darüber, wie die Trauer sich mischt mit Verwunderung. Verwunderung über den Tod: „dass es ihn wirklich gibt“. Nicht das Alter, sondern der Tod ist die größte Überraschung im Leben.
Dieses Tagebuch ohne Daten ist also ein Trauerbuch. Ein Buch über Verluste, über die Angst. Doch nicht nur. Es geht auch um Familie, darum, was Mutter sein heißt und was Kind sein bedeutet, wie der Atem durch Jivamukti befreit wird, in welchem Verhältnis Leben und Schreiben zueinanderstehen und ob es zumutbar ist, wenn der Schriftsteller das Leben anderer sich als Material zu eigen macht. Geschrieben wird das fiktive Tagebuch – dass es fiktiv ist, das liegt in der Bezeichnung Roman – von einer Namenlosen, einer erfolgreichen Schriftstellerin und öffentlichen Figur, Essayistin auch und Intellektuellen, deren publizistische Interventionen und Reportagen etwa aus Afghanistan, Syrien, Iran oder Tschetschenien ihr Ruhm und Preise eingebracht haben. Das sind Attribute, die sie mit Navid Kermani, dem Verfasser des Romans „Das Alphabet bis S“ teilt, wie auch die Wurzeln der Familie in Iran und einige persönliche Katastrophen.
Es wird, so viel ist schon am Anfang klar, ein schweres Jahr für diese Erzählerin werden, und so hat sie sich das Ziel gesetzt, sich ungelesenen oder auch halbvergessenen, weggelegten Büchern in ihrer Bibliothek in alphabetischer Reihenfolge zu widmen – ein Minimalrest von „Plot“ in diesem ansonsten jeder Versuchung widerstehenden Text, ein Narrativ zu formen, das Kontrolle über das Geschehen suggerieren könnte, ein Geschehen, das neben den Toden eine Scheidung und eine schwere Erkrankung des Kindes umfasst. Insofern ist auch der Begriff der Erzählerin hier sehr weitgefasst. Es ist sie, die spricht. Eine Erzählung wird nicht daraus oder nur momentweise, wenn sie auf Reisen ist und darüber im Tagebuch eine Reportage schreibt.
Vom Plan einer Frau, all die lang weggelegten Bücher zu lesen
Nicht alle bisher ignorierten Bücher können von Anfang bis Ende gelesen werden, das ist selbstverständlich, aber jedes sollte einmal geöffnet worden sein. Ein ehrgeiziger Plan. Einer, der Überraschungen verspricht, Wiederbegegnungen, neue Verbindungen, Revisionen möglicherweise. Ein Plan auch, der den Tagen, der Arbeit Struktur gibt, neben dem Joggen und dem Yoga, dem Alltag – seit der Trennung von ihrem Mann ein geteilter Alltag –, mit dem Sohn, der Fürsorge für den alten Vater, den Lesungen, Reisen, Anfragen und E-Mail-Antworten. Und immer wieder einem kurzen Mittagsschlaf. Selbst darin ist die Erzählerin eine disziplinierte Frau. An manchen Tagen allerdings stockt das Schreiben über die Lektüren, und wir bekommen zum Teil zauberhafte Miniaturen zu lesen, über den Schnee zum Beispiel, übers Schwimmen oder eine Intimrasur, den „Faust“ an der Volksbühne oder die Besonderheit des Schlafs im Zug.
Einer der Ersten, auf den die Namenlose in ihrer Bibliothek trifft, ist Peter Altenberg. Seinen Sexismus findet sie „trostlos“, seine Pädophilie „abstoßend“, aber dennoch kehrt sie lesend immer wieder zu ihm zurück, weil sie seinen dialektisch gedachten Ästhetizismus interessant findet, die Idee, Unrecht und Gewalt fänden möglicherweise ein Ende, weil „der Anblick uns enerviert“. Für ihre eigenen Bücher vermutet oder hofft die Erzählerin, sie möchten die Einsicht fördern, das Elend lande vor der eigenen Haustür, „wenn man es in Afghanistan ignoriert“.