Vor dem Gießener Landgericht geht nach dreieinhalb Monaten ein Prozess zu Ende, der ein Verbrechen aufklären sollte, das wie aus dem Nichts geschah. Die Verhandlung sollte Familie, Freunden und Mitschülern helfen zu verstehen, was kaum zu begreifen ist. Wie es dazu kommen konnte, dass die Vierzehnjährige rund 400 Kilometer von ihrem Heimatort entfernt, in einem Waldstück nahe Langgöns in Mittelhessen, von ihrer Internetbekanntschaft getötet und ihre Leiche in einem See abgelegt wurde. Das wird nur bedingt gelingen. Der Angeklagte, der 30 Jahre alte Jan P., weigert sich, über die Umstände des Verbrechens und über das, was in ihm vorging, zu sprechen.
An den 14 Verhandlungstagen ist deutlich geworden, welche Risiken im Dickicht der sozialen Netzwerke für Mädchen und junge Frauen lauern. Die Möglichkeiten, in diesem Kosmos die aufkeimende eigene Sexualität auszuprobieren, die eigenen Grenzen zu testen, sind ebenso vielfältig wie die Gefahren, auf jemanden zu treffen, der im vermeintlich geschützten virtuellen Raum mehr will als einen Kontakt aus der Distanz. Oft ist der so verständnisvolle Chatpartner ein Mann, der sich beim „physischen Treffen“ als viel älter und unattraktiver entpuppt, als er sich gerierte. Und der in der Wirklichkeit seinen sexuellen Drang ausleben will, im schlimmsten Fall auch mit Gewalt.
Oberstaatsanwalt fordert lebenslange Freiheitsstrafe
In seinem Plädoyer vor der Schwurgerichtskammer des Gießener Landgerichts hat Oberstaatsanwalt Thomas Hauburger am Montag eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes beantragt. Außerdem soll das Gericht die besondere Schwere der Schuld des Angeklagten feststellen und anordnen, dass er nach Verbüßung der Strafe in Sicherungsverwahrung genommen werde. Der Strafverfolger sieht den Vorwurf der Anklage bestätigt, P. habe das Mädchen in jener Nacht entweder getötet, um die versuchte Vergewaltigung zu verdecken oder seinen Geschlechtstrieb zu befriedigen. Diese Mordmerkmale lägen wahlweise vor.
Die besondere Schwere der Schuld ergibt sich für den Oberstaatsanwalt aus der Verwerflichkeit des Verbrechens. Ayleen habe voller Angst viele Stunde ertragen müssen, in der Gewalt eines Mannes zu sein, von dem sie nicht wusste, was er mit ihr vorhabe. Auch wie sich der Angeklagte verhielt, nachdem er die Leiche des Mädchens in einem See „wie Müll entsorgt“ habe, sei zu berücksichtigen. Er schickte einer anderen Chatpartnerin ein Video, das zeigt, wie er sich selbst befriedigt.
Verteidigung sieht Mordmerkmal als erfüllt an
Die Anwältin der Mutter der Getöteten kritisierte in ihrem Schlussvortrag das Landgericht Limburg dafür, dass es die Führungsaufsicht gegen den wegen eines ähnlichen Sexualdelikts vorbestraften Mann wenige Monate vor dem Verbrechen an Ayleen hatte auslaufen lassen.
Aus Sicht der beiden Verteidiger reichen die Beweise nicht aus, um von einem Sexualverbrechen ausgehen zu können. Die Obduktion und die Kleidung des Mädchens ergab keine entsprechenden Spuren. Die Voraussetzung, eine besonders schwere Schuld anzunehmen, lägen daher nicht vor. Jedoch sehen auch die Anwälte das Mordmerkmal, eine Straftat (Verschleppung einer Minderjährigen) zu verdecken, als erfüllt an. Er schließe sich den Verteidigern an, sagte P. in seinem letzten Wort und, kaum vernehmbar: „Es tut mir leid.“
Als die 14 Jahre alte Schülerin Ayleen am 22. Juli 2022 in Gottenheim bei Freiburg als vermisst gemeldet wurde, war der Polizei schnell klar, dass dies kein Fall von vielen sein konnte, in dem ein Mädchen eine Nacht nicht nach Hause kommt. Die Polizei bildete eine Sonderkommission, in der Hoffnung, sie noch lebend zu finden.
Im Mittelpunkt stand die Auswertung der digitalen Spuren. Von Funkzelle zu Funkzelle, in der das Handy des Mädchens eingeloggt war, ließ sich die Route nach Hessen verfolgen. Sofern die Daten noch zur Verfügung stehen, können Kriminaltechniker diese Bewegungsprofile mit denen anderer abgleichen und herausfinden, wer parallel und gleichzeitig unterwegs war. Ein solcher Kreuztreffer ergab sich für Jan P., einen vorbestraften Sexualtäter. Der Mann aus Waldsolms nahe Wetzlar, der bei einem Sicherheitsdienst arbeitete, wurde festgenommen. In seiner Wohnung fanden die Ermittler Kleidungsstücke und ein Handy, die, wie sich herausstellte, dem Mädchen gehörten.