Knapp ein Drittel aller europäischen Asylanträge wird derzeit in Deutschland gestellt. Das ist ein Übergewicht, wofür es Gründe geben muss, und diese Gründe wurden in den vergangenen Wochen von Politikern der FDP und AfD, vor allem aber von der Union gefunden: im Sozialsystem Deutschlands. Nach ihrer Meinung sind die deutschen Leistungen ein entscheidender „Pull-Faktor“ dafür, dass Flüchtlinge in Europa sich nach Deutschland bewegen. Sie wollen also, dass die Menschen weniger Leistungen bekommen, und argumentieren, dass dann auch weniger Menschen kämen.
Alexander Dobrindt, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag, sagte etwa in einem Interview, die Ampel habe „viele, viele Pull-Faktoren neu geschaffen“. Die Anreize seien „schlichtweg zu hoch“, etwa, wenn abgelehnte Asylbewerber die gleichen Leistungen bekämen wie Asylbewerber, die einen positiven Bescheid bekommen haben. „Dadurch bleiben wir unglaublich attraktiv in Europa.“
Die CDU-Landtagsfraktion in Baden-Württemberg formulierte ein Zwölf-Thesen-Papier zur Migration, in dem es heißt, „wir müssen weitere Pull-Faktoren nach Deutschland unbedingt vermeiden“. Die Fraktion will deshalb, dass ukrainische Flüchtlinge nicht mehr direkt ins Bürgergeldsystem aufgenommen werden. Der Präsident des Landkreistages, Joachim Walter von der CDU, sagte, es müsse „ohne ideologische Scheuklappen hinterfragt werden, ob das deutsche Sozialrecht bei den Geflüchteten immer die richtigen Anreize setzt“. Die FDP schlug vor, Asylbewerbern mit geringer Bleibechance kein Geld, sondern eine Bezahlkarte auszuhändigen. „Damit würde ein wesentlicher Anreiz zur Einreise in die Sozialsysteme entfallen“, argumentierte die Partei in einem Präsidiumsbeschluss.
Woher haben sie die Erkenntnisse?
Dieser Forderung schloss sich die CDU an, weitete sie allerdings aus „für Bewerber im Verfahren oder abgelehnte Asylbewerber“. Ihr Vorsitzender Friedrich Merz hatte in einer Talkrunde schon in der Woche zuvor von „ganz massiven Pull-Faktoren“ geredet, „weil natürlich die Standards hier so sind, wie sie sind“. Ein paar Minuten später brachte er dann das Beispiel von abgelehnten Asylbewerbern, die sich in Deutschland die Zähne machen ließen und dadurch den Deutschen die Termine beim Arzt wegnähmen.
Auf diese Weise wurde in den vergangenen Wochen ein bestimmtes Bild von Flüchtlingen gezeichnet oder auch bedient. Das Bild von Menschen, denen es in erheblichem Maße darum gehe, Sozialleistungen, auch in Form von Bargeld, abzuschöpfen. Wenn dies nicht mehr möglich sei, so der Schluss, dann seien entscheidende Pull-Faktoren beseitigt und Deutschland für sie als Fluchtort nicht mehr so interessant.
Erstaunlich ist, dass niemand nachgefragt hat, auf welche Grundlagen sich die genannten Politiker bei ihrem Kausalschluss „Deutscher Sozialstaat zieht Flüchtlinge an“ eigentlich beziehen. Woher haben sie ihre Erkenntnisse?