In Polen zeichnen sich nach Schließung der Wahllokale am Sonntagabend deutliche Stimmengewinne für die Opposition ab. Zwar wurde die Regierungspartei PiS, deren Name „Recht und Gerechtigkeit“ lautet, gemäß einer Nachwahlbefragung für die drei größten Fernsehsender mit etwa 37 Prozent der Stimmen wieder stärkste Partei. Doch vor vier Jahren hatte sie nach der Einführung großzügiger Sozialleistungen noch knapp 44 Prozent errungen.
Die liberale Bürgerplattform PO, die durch den Einschluss kleinerer Parteien unter dem Namen „Bürgerkoalition“ (KO) antrat, verbesserte sich von 27 auf 32 Prozent. Ihre potentiellen Koalitionspartner, das in der Mitte angesiedelte Wahlbündnis „Dritter Weg“ und die Linke, kamen auf 13 beziehungsweise 9 Prozent. Die extrem rechte Partei „Konföderation“ landete mit 6 Prozent in der Nähe der Fünfprozent-Hürde.
Die Fehlermarge bei diesen Umfragewerten wird auf rund zwei Prozentpunkte beziffert. Ein amtliches Endergebnis ist frühestens in der Nacht auf Dienstag zu erwarten. Im Verlauf des Montags sind Hochrechnungen auf der Basis bisher ausgezählter Ergebnisse zu erwarten.
Kaczyński: „Werden nicht erlauben, dass Polen verraten wird“
Oppositionsführer Donald Tusk sagte nach Bekanntgabe der Prognose: „Die Demokratie hat gesiegt. Wir haben sie von der Macht verdrängt.“ Das sei „das Ende der PiS-Regierungen“. Er gratulierte den Vorsitzenden der beiden mit der KO verbündeten Oppositionskräfte „Dritter Weg“ und Linke zu deren Erfolg: „Gemeinsam haben wir eine große Sache geschafft.“ Tusk kündigte die Bildung einer gemeinsamen Regierung an.
Der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński dagegen hob hervor, dass seine Partei zum dritten Mal in Folge als stärkste Kraft aus einer Parlamentswahl hervorgegangen ist. Noch sei unklar, ob dieser Erfolg zu einer Fortsetzung der PiS-Regierung führe. Die Partei werde ihr Programm „unabhängig davon, ob wir an der Macht oder in der Opposition sein werden, auf unterschiedliche Weise verwirklichen“, sagte Kaczyński.
„Wir werden nicht erlauben, dass Polen verraten wird. Dass Polen das verliert, was für unser Volk das wertvollste ist, die Unabhängigkeit“, so Kaczyński weiter. Im Wahlkampf hat die PiS Tusk vorgeworfen, während seiner Zeit als Ministerpräsident von 2007 bis 2014 „Verrat“ an Polen begangen zu haben. „Vor uns sind noch Tage des Kampfes und der Spannungen“, rief Kaczyński den PiS-Anhängern zu. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sprach sogar von einem „historischen Sieg“ der Regierungspartei.
Lange Schlangen vor Wahllokalen
Laut der ersten Prognose für die Mandatsverteilung kommen die KO, der „Dritte Weg“ und die Linke zusammen auf 248 von 460 Sitzen im Abgeordnetenhaus, dem Sejm. Die PiS kommt demnach auf 200 Mandate und die „Konföderation“ auf zwölf Sitze. Die Sitzverteilung ist eine Projektion auf Grundlage der Nachwahlbefragung, sie kann sich aufgrund des komplizierten Wahlsystems durch die Auszählung noch verändern. Die Mehrheitsverhältnisse im Senat als zweiter Kammer wurden von der Prognose noch nicht erfasst. Doch im Senat verfügte die Opposition schon bisher über eine Mehrheit.
Bei der Wahlbeteiligung zeichnete sich ein Rekord ab. Sie lag offenbar höher als bei jeder anderen Parlamentswahl seit 1989. Die Nachwahlbefragung schätzt sie auf rund 73 Prozent. In vielen Wahllokalen, insbesondere in den Großstädten sowie in diplomatischen Vertretungen im Ausland, mussten die Wähler lange anstehen, bis sie an der Reihe waren. Offenbar haben außergewöhnlich viele junge Menschen an der Wahl teilgenommen.
Die Staatliche Wahlkommission wies angesichts der langen Schlangen darauf hin, dass jeder, der vor 21.00 Uhr an seinem Wahllokal ankommt, auch abstimmen darf. Aus Breslau (Wroclaw) wurde gemeldet, dass Stimmzettel nachgedruckt werden mussten. Auch in einigen Wahllokalen in Warschau haben laut Medienberichten schon am Nachmittag Stimmzettel gefehlt.
Viele Wähler verweigern Teilnahme am Referendum
Ein Regierungswechsel in Warschau erscheint damit denkbar. Er würde nach acht Jahren das Ende der Herrschaft der nationalkonservativen PiS bedeuten, die das Land tiefgreifend verändert und im Streit um die Rechtsstaatlichkeit in einen Konflikt mit der EU-Kommission geführt hatte.
Der Wahlkampf war ausgesprochen polarisiert zwischen dem PO-Vorsitzenden und früheren EU-Ratspräsident Donald Tusk auf der einen und dem PiS-Chef Kaczyński und Ministerpräsident Morawiecki auf der anderen Seite.
Zur Mobilisierung der PiS-Wählerschaft wurde gleichzeitig ein Referendum abgehalten. Seine vier tendenziös formulierten Fragen betrafen unter anderem die Migration und die Umverteilung von Migranten innerhalb der EU, was die PiS vehement ablehnt.
Ein großer Teil der Wähler machte von der Möglichkeit Gebrauch, im Wahllokal den Referendumszettel zurückzuweisen und nur an der Wahl teilzunehmen. Laut der Agentur Ipos, welche die Nachwahlbefragung durchführte, lag die Beteiligung bei nur rund 40 Prozent. Erst ab einer Beteiligung von 50 Prozent ist das Ergebnis bindend. Ministerpräsident Morawiecki warf der Opposition „undemokratisches Verhalten“ vor, weil sie aufgerufen hatte, sich nicht am Referendum zu beteiligen.
Erhält die PiS den Regierungsbildungsauftrag?
Nach der Wahl müssen Sejm (Abgeordnetenhaus) und Senat binnen 30 Tagen zu ihrer ersten Sitzung zusammentreten. Danach müsste ein neuer Ministerpräsident binnen vier Wochen vom Staatspräsidenten designiert werden und die Vertrauensabstimmung im Parlament bestehen.
Denkbar ist, dass der PiS-nahe Präsident Andrzej Duda der bisherigen Regierungspartei als stärkster Kraft als erster den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt, auch wenn ihre Chancen auf eine Mehrheitsfindung gering sein sollten. Schon am Sonntagabend forderten Oppositionspolitiker, von Anfang an Donald Tusk mit der Regierungsbildung zu beauftragen, da der Oppositionsführer bessere Aussichten habe, eine Mehrheit zu schmieden.