Die Linkspartei geht mit ihrem Ko-Vorsitzenden Martin Schirdewan und der parteilosen Flüchtlings- und Klimaaktivistin Carola Rackete als Spitzenduo in den Europawahlkampf. Rackete wurde am Samstagabend auf dem Parteitag in Augsburg von den etw 440 Delegierten mit 77,8 Prozent Zustimmung auf den zweiten Platz der Europawahlliste gewählt. Zuvor war Schirdewan mit 86,9 Prozent zum Spitzenkandidaten bestimmt worden.
Die 35 Jahre alte Rackete hatte keine Gegenkandidatin, für Platz eins der Europaliste trat neben Schirdewan spontan ein anderer Bewerber an. Der Hamburger Bijan Tavassoli, der schon in der Vergangenheit mit provokanten Aktionen aufgefallen war, erklärte kurzfristig seine Kandidatur. Schon beim Europaparteitag der Linken 2019 in Bonn hatte er dies getan, unterlag Schirdewan aber, der damals mit 83,8 Prozent zum Spitzenkandidaten gewählt wurde.
Applaus für Austrittsankündigung
Tavassoli nutzte seine Rede für eine Beschimpfung der Partei und eine Lobrede auf Sahra Wagenknecht, die vor kurzem aus der Linken ausgetreten ist und die Gründung einer eigenen Partei vorbereitet. Tavassoli erklärte in seiner Rede auch seinen Austritt aus der Linken. Während er sprach, verließen zahlreiche Delegierte demonstrativ den Saal, für seine Austrittsankündigung erhielt er von den im Saal verbliebenen Applaus.
Mit Bezug auf die parteilose Klimaaktivistin Rackete und den ebenfalls parteilosen Gerhard Trabert, der als „Arzt der Armen“ bekannt geworden ist und für Platz vier der Liste nominiert worden war, sagte Tavassoli, es sei ja offensichtlich hilfreich, kein Parteimitglied zu sein, wenn man auf die Europawahlliste des Bundesausschusses kommen wolle.
Als Tavassoli Rackete vorwarf, sie hole mit einem Boot auf dem Mittelmeer ein „neues Volk“ nach Deutschland, stimmte eine Gruppe von Delegierten den Ruf „Siamo tutti antifascisti“ (Italienisch für „Wir sind alle Antifaschisten“) an, eine Parole, die von der Antifa häufig auf Demonstrationen verwendet wird.
Tavassoli spielte mit seiner Äußerung auf Racketes Vergangenheit in der Seenotrettung an. Sie ist als Kapitänin des Schiffs „Sea Watch 3“ international bekannt geworden. Im Jahr 2019 legte sie trotz eines Verbots der italienischen Behörden auf der Insel Lampedusa an, um aus Seenot gerettete Migranten an Land zu bringen.
Rackete zu SED-Äußerung: Da habe ich Mist gemacht
Tavassoli bekam in der Wahl neun Stimmen, dann wurde er von Sicherheitspersonal aus der Halle geführt. Das Parteitagspräsidium sprach von einer „Störaktion“, Schirdewan von einem „unschönen Zwischenfall“. Der Landesverband Hamburg, dem Tavassoli angehört, hat nach eigenen Angaben bereits die Entscheidung getroffen, ihn auszuschließen.
In der Vergangenheit hatte sich Tavassoli unter anderem als lesbische, bärtige Transfrau ausgegeben und war immer wieder mit kruden Äußerungen aufgefallen. 2021 lobte er etwa die Machtübernahme der Taliban als Sieg über die „US-Imperialisten“ und billigte die Hinrichtung von „Kollaborateuren“, also Afghanen, die mit ausländischen zusammengearbeitet hatten.
Die Kandidatur von Rackete wurde am Samstag in Augsburg von vielen Delegierten mit großem Applaus begleitet, und mit Bekundungen, wie sehr man sich über diesen Schritt freue. Am Vortag der Wahl hatte Rackete mit einem Interview bei einigen Linken für Unmut gesorgt. Sie sagte „Zeit Online“, dass sich die Linke noch einmal konsequent von ihrer SED-Vergangenheit distanzieren und diese Zeit aufarbeiten solle.
Später äußerte Rackete auf der Plattform X, dass dies „eine unbedachte Äußerung“ gewesen sei. Die Linke habe ihre Vergangenheit aufgearbeitet, schrieb sie. Zu Beginn ihrer Bewerbungsrede distanzierte sie sich nochmals von ihrer SED-Aussage: „Da habe ich Mist gemacht.“
Im Interview mit der F.A.Z. hatte sie zuvor mit Blick auf ihre Äußerung gesagt, es sei für sie und ihr Team, die von außen kämen, „auf jeden Fall schwieriger“, die Befindlichkeiten der Partei einzuschätzen. „Da haben wir noch viel zu lernen. Aber wir haben sehr viel Unterstützung in der Partei, dafür bin ich dankbar.“
Lesen Sie hier das vollständige Interview mit Carola Rackete.
Auf Platz 3 des vierköpfigen Spitzenteams für die Europawahl am 9. Juni 2024 wurde am Samstagabend Özlem Demirel gewählt, die die Linke – wie Schirdewan – bereits im Europaparlament vertritt. Sie hatte eine Gegenkandidatin, das Parteivorstandsmitglied Didem Aydurmuş. Das beste Ergebnis bekam mit 96,8 Prozent Trabert, der sich seit Jahrzehnten als Arzt um Obdachlose und Flüchtlinge kümmert.