Was im deutschen Osten passiert, ist genau das, was 1949 verhindert werden sollte, als das Grundgesetz geschrieben wurde. Eine rechtsextreme Partei droht stärkste Kraft zu werden. Das ist der Ernstfall, keine Übung. Eine Mehrheit der Bürger erwartet, dass es am Ende des Jahres in Sachsen, Thüringen oder Brandenburg einen rechtsextremen Ministerpräsidenten geben wird.
Trotzdem herrscht eine gespenstische Ruhe im Land. Es gibt keine Großdemonstrationen, keine Vorkehrungen, keine ernst zu nehmende Verbotsdebatte. Die AfD und ihre Wähler sagen, das liege daran, dass die Partei überhaupt nicht extremistisch sei. Das behaupte der Verfassungsschutz nur, und zwar auf Anweisung der Innenminister, die ihre Posten sichern wollten, eine Verschwörung also. Das wäre schlimm, aber weniger schlimm als eine extremistische Regierung – und noch dazu völlig unrealistisch.
Dutzende Behördenleiter lassen sich von ihren Innenministern eine fachlich ungerechtfertigte und damit rechtswidrige Entscheidung diktieren und erzählen über Jahre niemandem davon? Jaja, das geht, sagen die AfD-Leute, weil die Behördenleiter auch unter der linksgrünen Decke stecken, genauso wie der Staatsapparat, sämtliche Parteien außer ihrer eigenen, eine breite Mehrheit der Bevölkerung, Wirtschaft, Industrie, Verbände, Wissenschaft und Medien.
Alles Anhänger einer radikal anderen Weltanschauung als jener der AfD, womit die Argumentation sich widerspricht. Es bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder wir werden schon von Extremisten regiert, die eine demokratische Opposition unterdrücken, oder die AfD ist selbst extremistisch, weil sie diesen demokratischen Staat als korrupt und verbrecherisch ablehnt. Beides ist ziemlich beunruhigend. Warum also herrscht eine so schlafwandlerische Ruhe im Land?
Die AfD-Wähler sind von einem Missverständnis geleitet
Viele wissen nicht, was noch getan werden kann. Es wurde gewarnt, entzaubert, enthüllt und vorgeführt. Nichts hat geholfen. Mit der Zeit wurde klar, dass die Wähler von einem Missverständnis geleitet sind. Sie wählen die AfD, sagen den Demoskopen aber freiheraus, dass sie nicht glauben, dass die AfD die Probleme lösen wird.
Sie denken, die Leidtragenden der AfD seien die anderen Parteien, dabei sind sie es selbst. Wenn die AfD regiert, sind dort keine CDU-Minister mehr, denen man eine Lektion erteilen kann. Und rechtsextreme Regierungen sind nicht nur für Flüchtlinge, Muslime oder die Antifa unangenehm, sondern für alle. Der Erfahrung nach wird das Leben dann für sämtliche Bürger schlechter. 1948 war diese Erkenntnis noch sehr präsent.
Mancher ertappt sich bei dem Gedanken, dass ein solcher Schock heilsam sein könnte. Dass die AfD sich dann entzaubert. Bloß wurde das schon ausprobiert, „in zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht!“, sagte Franz von Papen 1933.
AfD-Politiker halten solche Vergleiche natürlich für eine Unverschämtheit. Und tatsächlich sind die ideologischen Unterschiede zwischen Nationalsozialisten und modernen Rechtspopulisten groß. Trotzdem kommt es ständig vor, dass AfD-Leute Nazis sehen und nicht als solche erkennen. Wenn ihre Leute antisemitische Hetzschriften verfassten, sich an der Wolfsschanze mit der Hand auf dem Herzen fotografieren ließen, Hitlerbildchen in Chatgruppen schickten oder zur Unterstützung eines Vereins von Holocaust-Leugnern aufriefen, wollten Parteifreunde lieber an ein Versehen, eine Verdrehung oder ein Missverständnis glauben, solange es irgendwie geht. Wer meint, solche Leute urteilten in Regierungsverantwortung plötzlich messerscharf und unbestechlich, ist ein Narr.
Hannah Arendt erzählte gerne, wie gebildete Deutsche sich vor der Machtergreifung bemühten, in Hitlers plumper Ideologie etwas Sinnhaftes, Raffiniertes zu sehen. Das passiert mit Trump und der AfD auch. Wer das Bedrohliche nicht verhindern kann, sagt eben, dass es schon nicht so schlimm kommen werde. Das entlastet. Deshalb wird man solche Argumente noch öfter hören.
Der Optimismus hat noch einen anderen Grund, es gibt nämlich eine optische Täuschung. Die AfD wirkt heute ruhiger und professioneller, ihre Funktionäre haben aus Fehlern gelernt. Das sehen die Bürger und hören zur gleichen Zeit den immer schrilleren Alarm des Verfassungsschutzes. Beides passt nicht zusammen. Die Bürger müssen annehmen, dass die Behörden entweder übertreiben oder dass das Skandalöse bei der AfD stärker hinter verschlossenen Türen stattfindet. In beiden Fällen ist der Verfassungsschutz gefragt. Er muss sehen, was der Öffentlichkeit verborgen bleibt, darf dann aber nicht nur Einstufungen verkünden, sondern auch die Gründe. In der Vergangenheit haben Materialsammlungen geholfen. Es sollte sie wieder geben.