Lukas Rietzschel schaut dem Volk aufs Maul. Exemplarische Meinungen, Haltungen und Verhaltensweisen spiegeln seine Romane „Mit der Faust in die Welt schlagen“ und „Raumfahrer“, freilich nur von Teilen des Volkes und literarisch stark überhöht.
Als der in Görlitz lebende Schriftsteller nun aber vom dortigen Gerhart-Hauptmann-Theater beauftragt wurde, ein Bühnenstück für dessen Spielstätte in Zittau zu erarbeiten, da zog er tatsächlich aus, um Volkes Stimme einzufangen und für die darstellende Kunst zu bannen. Mehr als einhundert Gespräche soll er geführt haben, deren Resultate in „Das beispielhafte Leben des Samuel W.“ eingeflossen sind. Die Uraufführung am Wochenende scheint perfekt auf das Wahljahr 2024 einzustimmen.
Allerdings geht es im Stück erst einmal um Lokalpolitik. Bernd, der Bürgermeister, will wiedergewählt werden, wird aber von Samuel W. herausgefordert. Vor einer Wahlveranstaltung (passenderweise in einem Theater) denkt der Amtsinhaber noch darüber nach, dem Gegner die Hand zu reichen. Seine Parteifreunde halten ihn davon ab, schließlich bedeute solch ein Foto bei einer Wahlniederlage nur schlechte Presse. Samuel W. hat sich ohnedies in seine Garderobe zurückgezogen.
Wer aber ist dieser Samuel W.? Mit dieser Frage beginnt das eigentliche Bühnenspiel, dessen Vorgeschichte als Video in Schwarz-Weiß projiziert wird. Die Biographie des Kandidaten ergibt sich dann aus einem Puzzle von mal solistisch und mal in der Gruppe halbwegs synchron vorgetragenen Gesprächsfetzen, die reichlich authentischen Wortlaut aus Rietzschels Recherchen wiedergeben. In knapp eineinhalb Stunden erfahren wir, dass W. aus einem östlichen deutschen Provinznest stammt – „östlicher geht’s ja gar nicht“.
Die blanke Unschuld einer heilen Welt wachsenden Wohlstands
Geboren in den Achtzigerjahren, wächst er in Umbruchzeiten auf und muss die Entwertung nicht nur elterlicher Arbeitsleistungen, sondern die einer ganzen Region erfahren. Das hat Auswirkungen auf ihn und sein Umfeld, weckt erst die Lust, aus der Misere auszubrechen und nach Hannover zu ziehen („Die ganzen Ausländer dort und wie hässlich die Städte sind!“), dann aber den Trotz, der alten Heimat erst recht verbunden zu sein. Neue Erfahrungen sammelt er bei Bund und Polizei: „Das hat doch sein ganzes Weltbild nur gefestigt.“ Von der FDP, die er als „Ausbildungsbetrieb“ für seine AfD-Karriere ansieht, hat er sich rasch wieder abgewandt.
Was Lukas Rietzschel in seinen vielen Gesprächen eingefangen hat, wird auf der Bühne von einem äußerst agilen Quintett wiedergegeben, das ohne feste Rollenzuweisung agiert, sich aber als biederes Ehepaar, feiste Nachbarin und bodenständig grummelnde Arbeiter zu erkennen gibt. Dass zuallererst ein Zaun errichtet wird, lässt nichts Gutes ahnen. Hier geht es um Abgrenzung. Erheblich unterscheiden sich denn auch die Betrachtungsweisen der Akteure. Eine Quintessenz von Volkes Stimme, für die Rietzschel DDR-Betrachtungen ebenso destilliert hat wie den Graben zwischen Ost und West, krude Meinungen zum 11. September 2001, zu Flüchtlingen und Restriktionen wegen „so einer Grippe“ sowie zu Russlands Krieg gegen die Ukraine.
Der Text ist bewusst als Collage gehalten, seine Umsetzung durch Schauspieldirektor Ingo Putz wechselt zwischen kabarettistischem Klamauk und berührenden Szenen. Diesseits des weißen Zauns wird ein weißes Haus errichtet, dazu gesellt sich ein weißer Grill, dann ein Pool, dem später ein weißer Delphin entspringt, eine weiße Tischtennisplatte – die blanke Unschuld einer heilen Welt wachsenden Wohlstands. Unnötig zu betonen, dass auch die beiden Damen und drei Herren weiß gekleidet sind, da selbst Bierflaschen und Grillwürste strahlend weiß gehalten sind (Ausstattung und Video: Sven Hansen). Allein die Unzufriedenheit ist nicht zu übertünchen, da wird genörgelt, was das Zeug hält. Nicht der Kapitalismus, sondern der Sozialismus sei Ausbeutung pur (obwohl in den Betrieben angeblich nur geschlafen und gesoffen wurde). Der Arbeitsmarkt hingegen müsse Arbeitermarkt heißen. Auch Plattitüden gibt es zuhauf, etwa über Wessis: „Leute, die nichts können, aber gut darüber reden können.“ Vom Umbruch zum Bürgerkrieg ist es bald nur noch ein kleiner Schritt.
Noch krasser ist die Sicht auf Zivildienst in der Pflege, „eine Aufgabe für Untermenschen“. In einer zweiten Ebene spiegelt die Tänzerin Elise de Heer das Geschehen als agiles Denkmal wortlos von einem Podest: gelungenes Plus zur Ensembleleistung.
Der Theater-Wahlabend findet sein Ende in einer weiteren Videosequenz. Samuel W. zieht die Bürgermeister-Kandidatur zurück, will seine Energie nutzen, um Innenminister zu werden. An dieser Stelle kommt plötzlich Farbe ins Spiel. Erst in der Projektion, dann auch auf der Bühne, als Bürgermeister Bernd vorm weißen Wählervolk steht: „Lang lebe der Bürgermeister!“ Dabei hatten ihn die eigenen Parteimitglieder in hellem Opportunismus verraten und auf die extremere Alternative von rechts gesetzt, weil das ja Fördergeld einbringen könnte. „Nach sieben Jahren wird wieder gewählt . . .“ – da sind des Volkes Stimmen gefragt.