Als in der 49. Minute die Sirene zur ungarischen Auszeit ertönte, rissen die deutschen Spieler die Arme in die Höhe. Gewonnen war das Spiel da noch nicht, aber kurz zuvor hatte Christoph Steinert das 28:22 erzielt, auf sechs Tore also war die Nationalmannschaft davongezogen, und so sollte die kollektive Selbstanfeuerung bedeuten: Das lassen wir uns nicht mehr nehmen.
Das tat die Mannschaft von Alfred Gislason dann auch nicht, und dank des 35:28 am Montagabend haben die Deutschen nun das Halbfinale bei dieser Heim-Europameisterschaft vor Augen. Ein Sieg am Mittwoch (20.30 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Handball-EM und in der ARD) im finalen Gruppenspiel gegen Kroatien, und die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) ist unter den letzten und besten Vier dabei.
Machbar erscheint das auch deshalb, weil die schwächer als erwartet aufgetretenen Kroaten nach einem 30:35 gegen Island ihrerseits keine Chance mehr aufs Weiterkommen haben. Was obendrein Mut machte: Die deutsche Mannschaft zeigte sich unbeeindruckt vom Krampf- und Zitterspiel gegen Österreich, sie griff variabel und flüssig an, warf konzentrierter, und das so, dass sich die Tore auf viele Schützen verteilten.
Der herausragende Julian Köster war mit acht Toren der erfolgreichste, ein besonders wertvoller Schachzug bestand aber auch darin, Jannik Kohlbacher im Angriff am Kreis zu bringen, das entlastete Johannes Golla. Kohlbacher selbst trug vier Treffer bei.
Und wenngleich die Torhüter eine erste Halbzeit zum Vergessen erlebten, war es in der überhaupt exzellenten zweiten Hälfte auch einer Steigerung in der Defensive und einem allmählich aufdrehenden Wolff zu verdanken, dass nun das große Ziel greifbar scheint – ob das dann gegen Dänemark oder Schweden reichen würde, ist eine andere Frage.
Neues Gesicht
Damit mussten sich am Montag aber weder die deutschen Spieler noch die 19.750 Zuschauer in der ausverkauften und am Ende zur Party-Gemeinde vereinten Kölner Arena aufhalten.
Im Vorspiel hatte das Publikum seine französische Leidenschaft entdeckt und feuerte „Les Bleus“ gegen Österreich an. Und Frankreich war mit dem 33:28 die erhoffte Hilfe. Damit war Frankreich im Halbfinale – und die Bühne für das erste Endspiel der DHB-Auswahl bereitet. Die Mannschaft hatte sich nach dem 22:22 gegen Österreich zurückgezogen, ob in erster Linie zur inhaltlichen Klausur oder zur inneren Sammlung, ließ sich nicht sagen.
Als die deutschen Spieler dann wie gewohnt zu den harten Klängen von „Enter Sandman“ die Halle betraten, war ein neues Gesicht dabei: Lukas Zerbe war kurzfristig nachgerückt, weil Timo Kastening wegen eines Infekts nicht einsatzbereit war.
Ungewöhnlich für dieses Turnier war dann aber noch etwas anderes. Andreas Wolff im deutschen Tor bekam erst einmal nichts zu fassen. Bis zur 13. Minute spürte er nur den Luftzug der an ihm vorbeirauschenden Bälle. Der ungarische Rückraum entfaltete eine Wucht, der die deutsche Defensive kaum etwas entgegenzusetzen wusste. Ohne eine einzige Parade räumte er das Tor für David Späth.
Weil die Deutschen sich auch vorne ein paar Fehlwürfe leisteten, liefen sie erst einmal (knappen) Rückständen hinterher, am Anfang war es Köster mit drei Toren zu verdanken, dass sie dranblieben, doch auch andere übernahmen Verantwortung, Häfner, Dahmke, Heymann, Kohlbacher. Eher reserviert dagegen agierte Juri Knorr, der am Samstag nach dem 22:22 gegen Österreich von einer Erkältung berichtet hatte; Würfe nahm der Regisseur überhaupt nicht. Immerhin aber konnte man bei fortschreitender Spieldauer festhalten: Vorne stimmte die Quote diesmal.
Und hinten? Hatte nach 20 Minuten Späth die erste Parade, und weil im Anschluss Sebastian Heymann mit ein bisschen Glück traf, lagen die Deutschen zum ersten Mal seit dem 1:0 wieder vorn: 13:12. Die Freude währte allerdings nur kurz, mit 15:15 ging es in die letzten fünf Minuten, Wolff kehrte noch einmal ins Tor zurück, es blieb bei der Minusbilanz von kumuliert einer Parade.
Im Zielbogen warfen die deutschen Angreifer dann immerhin einen Ein-Tor-Vorsprung heraus, 18:17. „Wenn wir weiterhin so angreifen, sieht es gut aus“, sagte Sportvorstand Kromer zur Pause.
Und es ließ sich gut an. Begünstigt durch technische Fehler der Ungarn zogen die Deutschen durch zwei Tore von Spielmacher Knorr, das erste sehenswert vorbereitet von Köster, auf 20:17 davon. Es war jetzt Showtime für Knorr, er verwandelte auch noch einen Siebenmeter, allerdings leistete er sich auch einen freien Fehlwurf und eine Zeitstrafe.
Nun lag auch atmosphärisch etwas in der Luft, die nun noch aggressivere deutsche Deckung schaffte es, die Ungarn weiter vom Kreis wegzuhalten, und auch Wolff bekam nun Zugriff. Als die Deutschen mit Kösters fünftem Treffer zum 23:19 zum ersten Mal mit vier Toren vorn lagen (40.), zeichnete sich deutlich ab, wohin der Abend führen würde.