Kürzlich war mein elfjähriger Sohn auf dem Geburtstag eines Schulfreundes eingeladen. Nach Information von dessen Mutter wünschte der Junge sich am liebsten etwas von „der Sugar Gang“. Als ich mich zum Bestellvorgang an den Rechner setzte, entpuppte sich die „Sugar Gang“ zunächst als Onlineshop für Import-Süßigkeiten und -Knabberartikel. Im nächsten Schritt erwies sich das ersehnte Geschenk als Chips. Im 92,3-Gramm-Beutel zu acht Euro das Stück.
Das Ganze ist nun knapp drei Monate her, doch die Tatsache, dass dieses Kind sich zum Geburtstag wirklich drei Beutel extrascharfe Mais-Chips der mir bis dahin völlig unbekannten Marke „Takis“ gewünscht hat und wir sie ihm auch noch gekauft haben, hat zu diversen Überlegungen meinerseits geführt. Zum Beispiel entspricht der Kilopreis der Takis von 86,76 Euro dem von fünf Kilo Spargel aus Schrobenhausen.
Eine Recherche ergibt: Takis sind mittlerweile einfach überall. Erst leuchteten sie in grell-violetten Beuteln mit knallgelbem Logo an Tankstellen von Displays herunter, die dazu scheinbar über Nacht aufgestellt worden waren. Dann ploppten sie als Sensationsangebot ähnlich wie – ja, tatsächlich – Spargel in den ersten Supermärkten auf. Heute gibt es Takis flächendeckend regulär bei Edeka, Rewe oder Kaufland. Als Nächstes springen sicher die Discounter auf und verschleudern sie zum Dumpingpreis. Denn mit der unheimlichen konzertierten Verbreitung ging ein Preissturz vergleichbar mit dem der Bayer-Aktie einher. Eine Packung Takis kostet bei Rewe derzeit (immer noch überteuerte) drei Euro.
So teuer wie Filetspitzen
Wenn ein Trend aus der Subkultur der Kinder erst mal in die Sphäre der Erwachsenen vordringt, also an die Tankstellen, in den Einzelhandel und in die Sonntagszeitung, ist der Hype in aller Regel endgültig vorbei. Von Ihren Kindern werden Sie jedenfalls nur noch mitleidige Blicke ernten, wenn Sie das Thema als Boomer jetzt noch ansprechen. Im Off ihrer für Erwachsene völlig intransparenten Informationskanäle bahnt sich längst das nächste große Ding an, von dem wir wieder keine Ahnung haben werden. Und doch steht für mich weiter diese eine Frage im Raum: Wie haben diese Chips es geschafft, Filetspitzen-Preise zu erzielen und von Kindern als Geburtstagsgeschenk begehrt zu werden?
Für alle, die auch late to the party sind, eine kurze Einführung: Was sind Takis? Mein Sohn hatte sie mir ehedem als kleine gerollte Tortillas beschrieben. So werden sie beworben. Es handelt sich aber in Wirklichkeit um mehr oder weniger massive, unnatürlich dunkelorange gefärbte Maismehlstangen von übertriebener Länge, die in etwa der eines ausgewachsenen kleinen Fingers entspricht. Beißt man hinein, hat man unmittelbar das Gefühl, soeben mehr als seinen gesamten Jahresbedarf an Knabberkram absorbiert zu haben.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Takis sind in ihrer „Frolic“-haften Textur von derart erschlagender Würze – zu scharf durch zu viel Chili, zu salzig durch zu viel Salz und auch noch sauer dank der charakteristischen „Takis“-eigenen Limettennote –, dass ein Befund schon mal vorab gestellt werden kann: Heranwachsende lieben die Extreme. Takis wiederum sind nichts anderes als einfach nur extrem. Im Geschmack und an den Fingern (und Schulheften), an denen ihre Färbung kleben bleibt als inoffizielles Erkennungsmerkmal der Eingeweihten.
Sie sehen aus wie Erdnussflips, sind aber höllisch scharf
Hergestellt werden Takis in Mexiko. Wie sie von dort ihren Weg an die deutschen Schulen gefunden haben, ist ein Lehrstück in Sachen Guerilla-Marketing. Und wie spät damit auf unseren Schulhöfen selbst die krassesten Early-Adopter dran sind, ist fast unglaublich, denn die ganze Geschichte begann vor 25 Jahren.
1999 startete die Firma Barcel in ihrem Werk in Hidalgo die Takis-Produktion, gezielt für den mexikanischen Snackmarkt, dessen Konsumenten scharfes Essen lieben. Vorbild der Takis aber waren die „Flamin’ Hot Cheetos“ der nordamerikanischen Konkurrenz Frito-Lay: Knabberkram, der aussieht wie leicht verhungerte Erdnussflips, aus Maismehl, mit Käsearoma und höllisch scharf. Deren Genese wiederum ist so ikonisch, dass sie 2023 sogar verfilmt wurde.
In ihrem Regiedebüt „Flamin’ Hot“ erzählt Eva Longoria, wie Richard Montañez als Hausmeister des kalifornischen Frito-Lay-Werks in den Siebzigerjahren eine Charge der seinerzeit nur mit Käse penetrierten Cheetos mit nach Hause nahm – aus einer Fehlproduktion, denn sie waren komplett ungewürzt. Dort will er sie in einer von ihm entwickelten scharfen Würzmischung gewälzt und damit die ganze Firma gerettet haben: mit dem ersten Snack für den lateinamerikanischen Nischenmarkt.
Ob das alles stimmt, bezweifelt die „Los Angeles Times“. Sicher ist: Montañez wurde vom Hausmeister zum Vizepräsident von PepsiCo und die „Flamin’ Hot Cheetos“ mehr als nur ein Snack. Auf Jahrzehnte genossen sie Heldenstatus in der hispanischen Community. Bis zur Invasion der Takis.
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2006 expandierte die mexikanische Firma Barcel damit in die USA. Schon 2013 vermerkt ein Artikel der „Houston Press“, Takis hätten die „Cheetos“ als Pausensnack an amerikanischen Grundschulen nahezu abgelöst. Ein Grund ist lebensmitteltechnischer Natur: Käsearoma blockiert irgendwann die Geschmacksknospen, man möchte dann einfach nichts mehr davon essen. Takis hebeln diese Stoppregel aus, indem sie auf Cheddar verzichten und stattdessen ihr Alleinstellungsmerkmal ausspielen: Limette.
Limette ist in der Küche Mexikos und Zentralamerikas extrem beliebt. Außerdem erhöht die Geschmacksrichtung „sauer“ den Speichelfluss. Das sorgt abermals dafür, dass man kaum noch aufhören kann zu essen – wenn man hartgesotten genug ist, das erste Takis hinunterzubringen.
Ja, auch meine Testtüte ist leer.
Wie die Firma für die Chips wirbt
Die Schallmauer der kulturellen Geschmackspräferenzen haben diese Chips aber nicht allein mit Geschmack durchbrochen. Sondern zuvorderst mit einer Marketingoffensive, die klassische PR-Agenturen blass werden ließ. Zur Markteinführung in Amerika investierte die Firma Barcel statt in große Budgets für Anzeigen, Plakate und TV-Spots massiv ins Sponsoring von Social-Media-Stars, die die „Cheetos“-Kundschaft direkt erreichten. Allen voran in Tiktoker, und hier gleich in die größten.
Charli D’Amelio – mit 150 Millionen Followern im Kinder- und Teeniealter zeitweise Guinnessbuch-Rekordhalterin – tanzte zur Zeile „Takis are really intense“. Tyler „Ninja“ Blevins (über 21 Millionen Follower) fand sich beim Zocken nach Takis-Konsum in seinem Game wieder. Beide launchten eine Hashtag-Challenge. Die Fans sollten Videos von sich posten, in denen sie in möglichst kurzer Zeit eine ganze Tüte scharfer Takis verschlingen und reportieren, wie es ihnen danach geht. Als Preis winkte ein Treffen mit den Tiktok-Stars. So trug sich das Marketing gratis als Selbstläufer fort.
Wen das nun an die zuletzt in die Schlagzeilen geratene „One Chip Challenge“ erinnert, der irrt nicht: Laut Adrian Balbegi, dem Gründer des Onlineshops „Sugar Gang“, der die Takis 2020 mit als Erster auf den deutschen Markt brachte, gab es erst das Takis-Wettessen und dann als Steigerung den sogenannten Hot Chip. Dieser schärfste Tortilla-Chip der Welt führte 2021 bis 2023 zu mehreren Todesfällen bei Teenies, die ihn als Mutprobe für Social-Media-Videos aßen. In Deutschland ist der Verkauf heute in mehreren Bundesländern verboten.
Takis gibt es in zahlreichen Sorten – „Crunchy Fajitas“, „Nitro“ oder „Guacamole“ etwa. Die schärfsten, etwa die blau gefärbten „Blue Heat“, liegen zwischen 8000 und 10.000 Scoville. Der Scoville-Wert gibt an, wie viel Capsaicin in einer Chilischote oder einer scharfen Soße enthalten ist. Beispielsweise hat eine Peperoni bis zu 1000 Scoville. Man stirbt nicht, wenn man sie isst. Zuletzt rief das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit dennoch die Sorte „Fuego“ zurück. Wegen fehlender Hinweise im Zutatenverzeichnis auf die Azofarbstoffe E110 und E129. Sie könnten „Aktivität und Aufmerksamkeit bei Kindern beeinträchtigen“.
Ob solche Meldungen der Beliebtheit der Takis auf dem Pausenhof Einhalt gebieten oder sie eher befeuern? Auf Social Media heizte das Verbot jedenfalls einen Diskurs über „echte“ Takis aus Mexiko im Vergleich zu den laschen Euro-Versionen an. Denn die Takis für den europäischen Markt werden mittlerweile in Spanien produziert, mit veränderter, gesetzeskonformerer Rezeptur. Langweilig.
Takis aus Mexiko vertreibt nach wie vor der Onlineshop „Sugar Gang“. „Ohne uns zu brüsten“, sagt Chef Adrian Balbegi, „haben wir den Hype in Deutschland gestartet.“ Auch hier ging das mit Sponsoring von Social-Media-Stars wie Montana Black einher, einem Youtuber aus Buxtehude. Doch jetzt, scheint es, frisst der Hype seine Kinder: Zum Preissturz der Chips sagt Balbegi zwar, nicht die Nachfrage habe nachgelassen, nur das Angebot sei explodiert. Fragt man die Zielgruppe jedoch direkt, stirbt mit der neuen Erschwinglichkeit eines der stärksten Verkaufsargumente. „Takis waren wahrscheinlich so beliebt, weil sie so teuer waren“, meint mein Sohn. Er hat sie übrigens nie gemocht.