Die Betonwände des Kanals sind glatt, rund und sauber. Am Boden ein Rinnsal, das auch klar aussieht. Jedenfalls stinkt es nicht. Von Ratten keine Spur. So haben wir uns das nicht vorgestellt, als wir uns angemeldet hatten zu einer Tour durch den tiefsten Kanal unter der österreichischen Hauptstadt. Zum „Tag der offenen Kanalröhre“, den die Stadt Wien vor einiger Zeit angekündigt hatte und dessen Besichtigungstouren binnen einer Stunde ausverkauft waren – wobei von den Besuchern nur eine Anmeldung verlangt wurde, kein Eintritt.
Wer kennt sie nicht, die Bilder des Films „Der dritte Mann“? Harry Lime, ein skrupelloser Penicillinschmuggler, wird durch die Wiener Kanalisation gehetzt, die ihm als Versteck unter der vom Zweiten Weltkrieg verwüsteten Stadt dient. Das könnte das Interesse an dieser Besichtigung angeheizt haben.
Dabei gibt es übers ganze Jahr eine kommerzielle „Dritte-Mann-Tour“. Sie sieht einen Abstieg in die Kanalisation vor, die im 19. Jahrhundert gemauert wurde und in der es tatsächlich ziemlich stinkt. Der Schauspielstar Orson Welles soll sich literweise parfümiert haben, als dort gedreht werden musste, und hielt es trotzdem keine zwei Drehtage dort aus.
Jeder bekommt einen QR-Code, damit niemand verloren geht
Das hier ist etwas anderes und bisher Einmaliges. Der Wiental Kanal ist nicht für Abwässer da, sondern für Regenwasser, und er ist keine 20 Jahre alt. In den kommenden Jahren soll er um ein Mehrfaches seiner bisherigen Länge ausgebaut werden. Regelmäßig wird er leer gepumpt, damit keine Ablagerungen entstehen und der Zustand der Wände kontrolliert werden kann. Diese Revision ist nun vor Kurzem beendet worden, und deswegen ist es möglich, die Röhre zu besichtigen.
Die Stadt hat an drei Tagen Führungen für insgesamt 1400 Besucher organisiert. Jeder bekommt einen QR-Code, der beim Ein- und dann wieder beim Ausstieg gescannt wird, damit niemand verloren geht. Eine Schar angeheuerter junger Helfer tut ein Übriges für einen wohlgeordneten Ablauf – einschließlich einer Kette „Lumpensammler“, die hinter der geführten Gruppe hergeht. Und sollte jemand ausrutschen, Panik bekommen oder sonst wie ärztliche Hilfe benötigen, steht auch die Rettung bereit.
Wir steigen 200 Stufen hinab in den mit 35 Metern tiefsten Kanal Österreichs, ja angeblich ganz Europas. Der Revisionsschacht am Karlsplatz nahe der Staatsoper, an dem wir einsteigen, liegt ungefähr auf der Mitte des Wiental Kanals. Der ist 2,6 Kilometer lang, jetzt gehen wir 1,2 Kilometer westwärts. Dass es bergauf geht, ist kaum zu merken; eigentlich erst am Ende, weil es da nur mehr 140 Stufen hinaufgehen wird. Hin und wieder sind – für diese Tour – Schilder aufgestellt, denen man entnehmen kann, wo man gerade ist. „Wiener Secession“ steht da auf einem angeleuchteten Pfeilschild, das rechts an die Wand montiert ist. Oben müsste also die eigentümliche Goldlaubkuppel des Jugendstilkunsthauses zu sehen sein. An anderen Stellen sind, dramatisch in Farben ausgeleuchtet, unterschiedlich große Röhren zu sehen, die ungefähr auf Kopfhöhe von links oder rechts in den großen Kanal münden. „Zulauf Ottakringerbach“ steht dann da beispielsweise.
Die normalen Abwasserkanäle sind mit den neuen Regenmengen überfordert
Die Donau bestimmt das Weichbild Wiens, aber es gibt auch eine ganze Reihe Gewässer, die im Wienerwald entspringen, durch die Stadt fließen und in den Strom münden. Man sieht sie nur kaum, weil sie zu Teilen oder ganz von der Oberfläche verschwunden sind, wie eben der Ottakringerbach. Hier in der Röhre sieht man sozusagen den Widerschein. Genauer den Überlauf.
Wozu das unterirdische Bauwerk dient, erläutert Josef Gottschall von der Wien Kanal, einem Subunternehmen der Stadt. „Der Pepi“, stellt er sich vor, denn: „Unter Tag sagt man Du.“ Schlicht gesagt, ist es ein Speicherbauwerk. Das Reservoir läuft voll, wenn es stark geregnet hat, und wird wieder leer gepumpt, wenn oben das viele Wasser aus dem Kanalnetz wieder abgelaufen ist. Es gebe immer seltener „die beschaulichen Landregen“, sagt Gottschall, also sanfte, kontinuierliche Niederschläge, die tagelang tröpfeln. Hingegen immer öfter „Monatsmengen in wenigen Stunden“. Die normalen Abwasserkanäle seien damit überfordert. Damit sie nicht überquellen, sprich das Abwasser samt Fäkalien zu den Gullis herausquillt, musste in die Gewässer hinein entlastet werden. Der Wienfluss wurde schon zu Kaisers Zeiten nicht zuletzt zu diesem Zweck „kanalisiert“: um das Wasser möglichst schnell aus der Stadt herauszubringen.
Mit zwei möglichen Folgen: Die Abwässer verdrecken Bäche und Strom. Oder sie überlasten die Gewässer, und dann ist doch Land unter. „Bei Starkregen hat der Wienfluss auch Hochwasser,“ sagt Gottschall. „Ich kann nicht gegen einen Hochwasser führenden Fluss entlasten.“ Daher wurden in verschiedenen Stadtteilen Speicherbecken gebaut. Der Wiental Kanal ist der größte, er kann bis zu 110 Millionen Liter Wasser aufnehmen. Es wird nach Ende der Niederschläge in die Kanalisation zurückgepumpt und fließt dort normal in die Kläranlage.
Das unterirdische Reservoir soll von neun auf knapp zwölf Kilometer verlängert werden
Wir sind am Ende des unterirdischen Spaziergangs angekommen. Die Röhre endet unterhalb des Ernst-Arnold-Parks mit einer glatten Wand. Auf diese wird für die Besucher noch ein Filmchen projiziert. Darin werden Reklamesprüche über die umweltschützende Wirkung der Kanalröhre mit Bildern von schaukelnden Kindern illustriert. Die Vorführung endet mit einem wirkungsvollen Effekt: Aus dem Lautsprecher grollt es bedrohlich, der Beton scheint zu zerbröseln, und hindurch frisst sich kreisrund rotierend ein gigantischer Bohrer.
Genau das soll in zwei Jahren hier geschehen. Dann soll nämlich ein Erweiterungsprojekt vollendet sein, durch welches das unterirdische Reservoir um neun auf insgesamt knapp zwölf Kilometer verlängert wird. Andreas Steinberger ist Planungstechniker bei Wien Kanal. Er erklärt das Projekt, mit dem auf die Prognosen immer häufigerer Starkregenereignisse reagiert wird. Auf seiner ganzen innerstädtischen Länge soll der Wienfluss dann untertunnelt sein. Eine große Bohrmaschine wird auf der Mitte der Erweiterung, am Wiener Gürtel, Stück für Stück heruntergelassen und unterirdisch zusammengebaut. Sie frisst sich erst in die eine Richtung bis zum Auhof am westlichen Ende Wiens, der Bohrkopf wird hochgeholt, die Maschine zurückgezogen und durch Aufsetzen des Bohrkopfes auf der anderen Seite „umgedreht“. Der Durchmesser der Erweiterung wird mit drei Metern kleiner sein als der bestehende Kanal mit seinen 7,5 Metern, dann fasst die gesamte Röhre 170 Millionen Liter. Wenn es dann mal wieder so einen Wandertag geben sollte, dürfte man schon eher Platzangst bekommen.
Ein bisschen könnte der „Tag der offenen Kanalröhre“ dem Gedanken geschuldet sein, dass so ein aufwendiges Projekt Werbung vertragen kann. 270 Millionen Euro stehen dafür im Budget. Was sagen denn die Besucher über die Aktion? Sie habe zufällig davon erfahren und sich sofort angemeldet, sagt eine Wienerin. „Ich schau grundsätzlich gern ausgefallene Orte an.“ Ein junger Mann fand es vor allem interessant, in der dunklen Röhre anhand der Straßenschilder zu sehen, wo man gerade sei. Seine Begleiterin sagt, sonst bekomme man ja nie die Möglichkeit, diese Speichertunnel zu sehen: „Die Unterwelt Wiens eigentlich.“