Für viele klingt es paradox, aber die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich durch die Machtübernahme der Taliban nachhaltig verbessert. Seitdem die Islamisten, die das Land einst mit Terroranschlägen überzogen, im Sommer 2021 die Macht übernommen haben, ist der Jahrzehnte währende Bürgerkrieg praktisch beendet. Die Taliban haben eine für afghanische Verhältnisse sehr stabile Regierung installiert, die das gesamte Land kontrolliert.
In einzelnen Provinzen gibt es weiterhin gelegentliche Angriffe von Widerstandsbewegungen und dem regionalen IS-Ableger ISPK, doch sind diese Gruppen weit davon entfernt, die Macht der Regierung in Kabul infrage stellen zu können. Viele Afghanen sehen es durchaus positiv, dass mit der Herrschaft der Taliban die ständige Gefahr, Opfer von Terrorangriffen oder Gegenschlägen der Armee zu werden, Vergangenheit ist. Auch Alltagskriminalität, die extreme Korruption und Willküraktionen einzelner Warlords haben die Islamisten mit ihrer kompromisslosen Herrschaft unter Kontrolle gebracht.
Insofern ist es naheliegend, die asylrechtliche Bewertung des Landes anzupassen: Krieg und Gewalt, die für viele Afghanen ausschlaggebend für Flüchtlingsstatus oder subsidiären Schutz in Europa waren, gibt es nicht mehr in der alten Form, auch wenn neue Gründe hinzugekommen sind.
Für Afghaninnen, die sich nicht in das traditionelle Sittengefüge einordnen wollen, und für Mädchen hat sich die Lage extrem verschlechtert: Schulen oberhalb der sechsten Klasse und Universitäten sind für Frauen weitgehend geschlossen, sie dürfen keine öffentlichen Parks mehr besuchen und grundsätzlich nicht ohne einen Mahram, einen männlichen Begleiter aus der Familie, reisen. Im Arbeitsleben herrscht strikte Geschlechtertrennung. Für viele ethnische Minderheiten wiederum gilt, dass sie zwar unter der Dominanz der paschtunischen Taliban leiden – vor allem die schiitischen Hazara klagen über Diskriminierung und mangelnden Schutz. Doch hat sich die Lage zuletzt verbessert.
Für „normale Bürger“ ist die Sicherheitslage gut
Verfolgung droht indes vielen Afghanen, die mit der alten Republik verbunden waren oder die Herrschaft der Taliban und ihre Ordnung infrage stellen. Kritische Journalisten, Oppositionelle, Menschenrechtsaktivisten oder LGBT-Personen leben in großer Gefahr. Der Sicherheitsapparat der Islamisten geht mit äußerster Brutalität gegen seine Gegner vor.
In Widerstandshochburgen wie dem Pandschir- oder dem Andarab-Tal, aber auch für Gegenden im Norden mit starken ISPK-Strukturen, wird immer wieder berichtet, dass die Taliban junge Männer willkürlich festnehmen, misshandeln und sogar töten, weil sie verdächtigt werden, sich anderen Milizen angeschlossen zu haben.
„Dennoch kann man keine Provinz in Afghanistan grundsätzlich als unsicher für normale Bürger bezeichnen“, sagt der afghanische Sicherheitsanalyst Abdul Mateen Imran der F.A.Z. Die größten Probleme der Menschen seien der Kollaps der Wirtschaft und die damit verbundene humanitäre Krise. „Lebensmittel sind wieder in ganz Afghanistan verfügbar, aber die Kaufkraft der Menschen ist gering“, sagt Imran. Laut dem Welternährungsprogramm hat sich die Lage zuletzt etwas verbessert. Einem aktuellen Bericht zufolge sind aber weiterhin 36 Prozent der Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen, 2,8 Millionen Menschen befinden sich in einer Notlage.
Europäische Gerichte sind weniger streng als die Deutschen
All das schlägt sich auch in der Bewertung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nieder. Afghanen bekamen zuletzt seltener Schutz wegen Krieg und Verfolgung zugesprochen. Allerdings galt ein allgemeines Abschiebeverbot aufgrund der schlechten Lebensbedingungen im Land. Das wird im Kern auf Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gestützt, der verbietet, einen Menschen in ein Land zurückzuweisen, in dem ihm Folter oder unmenschliche Behandlung drohen. „Die deutschen Gerichte legen diese Voraussetzungen traditionell streng aus“, sagt der Konstanzer Asylrechtler Daniel Thym. „Allerdings kann man das mit guten Gründen hinterfragen.“
Thym verweist darauf, dass die europäischen Gerichte ein Abschiebungsverbot bei extremer Armut nur für schutzbedürftige Personen verlangen, etwa während des Asylverfahrens, nicht aber wenn der Antrag eigentlich abzulehnen ist. Tatsächlich führten andere Länder, die ebenfalls an die EMRK gebunden seien, bereits Abschiebungen nach Afghanistan durch. „Selbst wenn die Gerichte an den hohen Standards festhalten, könnte man mit Partnern in Afghanistan für Schutzmechanismen sorgen“, sagt Thym. Die Bundesregierung ist zwar selbst nicht in Afghanistan vertreten, zahlreiche UN-Organisationen und private Hilfsorganisationen aber schon.
Besonderer Schutz für Terrorverdächtige?
Aus dem Schutz vor unmenschlicher Behandlung durch die EMRK kann sich allerdings paradoxerweise ein besonderer Schutz für Straftäter und Terroristen ergeben. Denn die könnten die sehr konkrete Gefahr geltend machen, dass sie in den Gefängnissen der Taliban gefoltert oder gar getötet würden. Vor allem gegen Anhänger des „Islamischen Staates“, der in Konkurrenz zu den Taliban steht, gehen die Islamisten mit maximaler Brutalität vor. Bei normalen Straftätern wäre die Frage, ob sie in Afghanistan eine weitere Haftstrafe verbüßen müssten.
Auch für dieses Problem gäbe es zumindest theoretisch eine Lösung: Deutsche Gerichte akzeptierten in der Vergangenheit Abschiebungen von Gefährdern in menschenrechtlich problematische Staaten, wenn die Behörden eine diplomatische „Zusicherung“ des Aufnahmestaates vorlegen konnten, dass dem Abgeschobenen weder Folter noch unmenschliche Behandlung drohen und gewisse Grundstandards eingehalten werden.
Die Taliban könnten Deutschland also zusichern, dass sie bei diesen Personen gewisse Standards befolgen. Da die Islamisten seit ihrer Machtübernahme auf allen Wegen um internationale Anerkennung werben, wäre es durchaus vorstellbar, dass sie zu einer solchen diplomatischen Zusicherung bereit wären (und sie dann auch einhalten). Politisch scheint es indes kaum vorstellbar, dass die Bundesregierung die Taliban durch eine solche Note aufwertet.
Doch selbst für den Fall, dass auch deutsche Gerichte Abschiebungen nach Afghanistan künftig akzeptieren, bleiben praktische Hindernisse. Werden Menschen gegen ihren Willen nach Afghanistan zurückgebracht, müssen sie von Sicherheitskräften begleitet werden. Dass deutsche Bundespolizisten in offizieller Mission ins Reich der Taliban fliegen, ist kaum vorstellbar. Ob Pakistan die von Bundesinnenministerin Nancy Faeser angedachte Rückführung auf dem Landweg übernimmt, ist noch offen. Vorstellbar wäre theoretisch aber auch eine Zusammenarbeit mit der Türkei, die Vertragspartei der EMRK ist und bereits im großen Stil nach Afghanistan abschiebt.