Giorgia Meloni erfährt derzeit viel Zuspruch. Zunächst von den italienischen Wählern: Meloni und ihre rechtskonservative Partei haben die Parlamentswahlen im September 2022 gewonnen, und sie werden ausweislich aller Umfragen auch bei den Europawahlen die meisten Stimmen erhalten. Zudem wird Meloni seit Monaten von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen umgarnt.
Um ihr Ziel einer zweiten Amtszeit zu erreichen, ist von der Leyen in Straßburg auf Stimmen außerhalb der informellen Koalition von Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen angewiesen. Von der war sie vor fünf Jahren im EU-Parlament mit knapper Mehrheit gewählt worden. Weil seither in vielen Ländern der Union neue Volksparteien auf der Rechten entstanden sind, sucht die Christdemokratin dort nach den erforderlichen Abgeordnetenstimmen.
Zuletzt hat auch Marine Le Pen die Nähe Melonis gesucht und ein Zusammengehen ihrer bisher getrennten Parteienfamilien vorgeschlagen. Le Pen will 2027 im dritten Anlauf endlich den Sprung in den Élysée-Palast schaffen. Bei Meloni schaut sie sich das Erfolgsrezept für den Weg zur Macht ab: Man rückt selbst vom rechten Rand in die Mitte und öffnet die Mitte zum rechten Rand (aber nicht bis zur AfD).
Sie hat den Zenit der Macht noch nicht erreicht
Meloni ist in einer komfortablen Lage. Sie wird in Europa als Königsmacherin gebraucht und kann sich alle Optionen offenhalten. Als Ziel für die Wahlen am Sonntag und für die künftige Führung der EU nennt Meloni, was ihr in Italien vor gut anderthalb Jahren geglückt ist: mit einer breiten Koalition der Rechten die Linke in die Opposition schicken.
Natürlich weiß Meloni, dass dieses Konzept nicht auf die Union der 27 Staaten übertragen werden kann. In Straßburg und Brüssel müssen jedem einzelnen Mitgliedsland Posten und Einfluss gewährt werden, neben dem politischen Interessenausgleich braucht es den nationalen.
Die europäische Linke wird nicht in die Opposition gehen müssen. Aber sie wird in Europa weniger zu sagen haben. Ihr politisches Gewicht als Führungsgestalt der europäischen Rechten kann Meloni sowohl bei der Bestimmung des Chefpostens der Kommission in die Waagschale werfen wie auch bei der Zuteilung eines Schlüsselressorts an Italien – etwa von jenem für Wirtschaft und Währung.
Die Regierungschefin der drittgrößten Volkswirtschaft der Eurozone hat den Zenit der Macht noch nicht erreicht. Ihre Koalition ist stabil und dürfte bis zum regulären Ende der Legislatur im Herbst 2027 im Amt bleiben. Meloni hat in Rom politische Großprojekte in Angriff genommen – von der Justiz- über die Gebiets- bis zur Verfassungsreform. Italiens Wirtschaft wächst moderat, aber immerhin kräftiger als die Frankreichs und schon gar Deutschlands.
Selbst beim Kampf gegen die illegale Migration stellt sich nun der versprochene Erfolg ein. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum sind die Ankünfte bis Ende Mai 2024 um fast sechzig Prozent zurückgegangen – dank der von Italien angestoßenen Kooperation der EU mit den Maghrebstaaten zur Eindämmung der Migrationsströme über das zentrale Mittelmeer, wie die Regierung sagt.
In der Außen- und Sicherheitspolitik, namentlich im Ukrainekrieg, verfolgt Meloni eine Politik in voller Übereinstimmung mit den europäischen Christdemokraten. Die von der Opposition erhobenen Vorwürfe, Meloni höhle mit ihren Reformen den italienischen Rechtsstaat aus und schränke die Medienfreiheit ein, sind kalkuliert übertrieben. Freilich bekennt sich Meloni fidel zum konservativen „Kulturkampf“ gegen die woke Ideologie.
Die anderen wirken zermürbt
Im Gegensatz zu Meloni wirken die Regierungschefs der größten und der zweitstärksten Volkswirtschaft der Union von inneren Machtkämpfen und gesellschaftlichem Widerstand zermürbt. Meloni dagegen segelt daheim wie in Europa vor dem politischen Wind. Die Warnung vor der Wiederkehr des Faschismus – namentlich im Italien Melonis – erscheint als Totschlagargument einer Linken, die am liebsten das unbotmäßige Wahlvolk austauschen würde.
Melonis Momentum in Europa ist schon jetzt zu erkennen, nach den Wahlen wird es wohl noch deutlicher zu spüren sein. Die überzogenen Klimaschutzziele des Green Deal musste die Kommission angesichts des wachsenden Widerstands im EU-Parlament und der Bauernproteste auf den Straßen Europas zusammenstutzen. In der Migrationspolitik ist die EU der „harten“ Linie Italiens gefolgt: mehr Abschottung und zugleich mehr Kooperation mit Herkunfts- und Transitstaaten zur Eindämmung der illegalen Migration.
Sogar die von Meloni geplante Auslagerung von Asylprüfungsverfahren für Bootsmigranten nach Albanien wird in der EU weithin als Modell gepriesen. Ihre politische Leitlinie nennt Meloni die des gesunden Menschenverstands. Das kommt bei nicht wenigen an.