Als die Nachricht am Mittwochabend über die Ticker der Agenturen läuft, sitzt Robert Habeck in einer halbleeren Fabrikhalle in Dortmund. Hinter sich eine Versuchsanlage, mit der ein Start-up „Stacks“ produzieren will, Zellblöcke zur Herstellung von Wasserstoff. Neben sich die Gründerin dieses Unternehmens und noch zwei andere, die im Eiltempo – der grüne Wirtschaftsminister und Vizekanzler kam spät und will pünktlich zum Halbfinale Niederlande-England im Stadion sein – ihre Geschäftsmodelle präsentieren. Sie reden, Habeck lutscht ein Hustenbonbon und lächelt in sich hinein. Annalena Baerbock will nicht noch einmal Kanzlerkandidatin werden. So hat sie es in Washington gegenüber dem amerikanischen Nachrichtensender CNN erklärt. Angesichts der internationalen Krisen wolle sie ihre Kraft „weiterhin voll und ganz“ ihrer Aufgabe als Außenministerin widmen.
Der Weg für Habeck ist frei. Aber betreten will er ihn dann doch lieber nicht gleich. Eine halbe Stunde später vor der imposanten ehemaligen Hochofenanlage auf dem Gelände des heutigen Technologieparks: Abschiedsfoto mit den Gründern. Und dann die Frage: Wird er Kanzlerkandidat der Grünen? „Erstmal will ich sagen, dass Annalena Baerbock dafür gesorgt hat, dass Deutschland in den vergangenen Jahren ein Stabilitätsfaktor in der Außenpolitik gewesen ist und nach wie vor ist“, antwortet er. Sie mache einen „hervorragenden Job“ als Außenministerin. „Alles Weitere werden wir in den Gremien beraten und die richtigen Entscheidungen rechtzeitig verkünden.“
Betonung der Erfolge in der Energiekrise
Er oder sie? Kanzlerkandidatur oder „nur“ Spitzenkandidatur? Seit Wochen werden die Grünen mit diesen Fragen konfrontiert. Habecks Auftritte legen nahe, dass er sich noch nicht am Ende seiner politischen Karriere sieht. In Peking gab er den Vermittler im Zollkonflikt zwischen der EU und China, in der Ukraine den überzeugtesten Unterstützer des von Russland angegriffenen Landes. Zudem betont Habecks Umfeld auffällig oft seine Erfolge in der Energiekrise. Keine kalten Wohnungen im Krisenwinter 2022/2023, die Energiepreise zwar nicht so niedrig wie in den USA, aber zumindest wieder auf dem Niveau, wie sie vor Beginn des Krieges waren. Aber Annalena Baerbock hielt die Spannung hoch. Erst vor wenigen Wochen sagte sie in einem Interview, dass die Sache für sie noch nicht entschieden sei.
Schon am Mittwochvormittag gab es eine interessante Szene auf Habecks Sommertour. Da stellte er sich in Essen den Fragen der „WAZ“-Leser. Auch die Verlegerin Julia Becker wollte etwas von Habeck wissen: Wie das mit ihm und Annalena Baerbock und der Kanzlerkandidatur sei. Alle Nicht-Eingeweihten dachten da noch, dass diese Frage erst nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland geklärt wird, vielleicht auch erst im kommenden Frühjahr.
Eine Programmfrage
Habeck holte lange zur Antwort aus. Berichtete von den mehr als 80 Stunden Verhandlungen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Finanzminister Christian Lindner (FDP) zum Haushalt und dem Wachstumspaket. „Es hilft, sich immer wieder klarzumachen, in welcher Verantwortung man eigentlich steht“, sagte er, und weiter: „Diese Kanzlerkandidatenfrage ist weniger eine Frage an mich oder Annalena Baerbock – wer will denn mal, wer hat noch nicht –, sondern vielmehr eine Frage an meine Partei, aber die gilt auch für andere Parteien: Was bietet ihr dem Land an, was wollt ihr in Zukunft repräsentieren, welche Rolle wollt ihr wahrnehmen? Wenn diese Frage beantwortet ist, dann ergibt sich der Rest mehr oder weniger zur Beantwortung.“
Was Habeck nicht sagte, aber was offensichtlich ist: Nach dem öffentlichen Aufschrei über das Heizungsgesetz, dem Herausgedrängt-Werden aus der Regierung in Hessen und den Verlusten in der Europawahl stehen die Grünen an einer Weggabelung. Zurück in die grüne Nische, zu einer ambitionierten Klimaschutzpolitik, wie Aktivisten sie fordern? Oder ein neuer Anlauf auf das Prädikat Volkspartei? Mit einer pragmatischen Politik, die in puncto Klimaschutz nicht mehr ganz so fordernd auftritt und die, wie von weiten Teilen der Gesellschaft gewünscht, eine restriktivere Migrationspolitik unterstützt? Es gibt für beide Wege Befürworter bei den Grünen. Was ebenso offensichtlich ist: Aus Sicht der Habeck-Unterstützer steht er für den breiten Ansatz, Baerbock eher für die Nische.
Ist die Sache nun entschieden? Nur zum Teil. Habeck braucht auch die Unterstützung des linken Parteiflügels, wenn er das Gesicht der Grünen im Wahlkampf werden soll. Für eine Partei, die bei allem auf Doppelspitzen setzt, Mann und Frau, Realo und Fundi, wäre ein auf die Person Habeck zugeschnittener Wahlkampf ein Prinzipienwechsel, mit dem sich viele schwer tun dürften. Wie groß Habecks Chancen gegen die Konkurrenten der anderen Parteien wären, lässt sich heute schwer abschätzen. Was ihm entgegenkommt: Weder Scholz noch sein mutmaßlicher Herausforderer der Union, Friedrich Merz, sind beliebt. Das weckt Hoffnungen, dass es mit einem Wahlkampf für eine „Transformation light“ zumindest deutlich mehr Stimmen geben könnte als die 11 bis 13 Prozent, bei denen die Grünen heute in Umfragen stehen.