Der Norddeutsche Rundfunk greift bei der Verabschiedung von Anne Will ins höchste Fach und traut sich eine zeitgeschichtliche Einordnung zu. Ihre Sendung, ihre Talkshow am Sonntagabend im Ersten, die der NDR verantwortet, sei ein „Gradmesser für die jüngste deutsche Geschichte“ gewesen, heißt es da. Und das – stimmt.
553 Ausgaben in 16 Jahren, mehr als 1300 Gäste
Allerdings nicht in dem jubelnd vorgetragen positiven Sinn, in dem der Sender in seiner Gratulationsmitteilung fortfährt und in Zahlen schwelgt: „die meistgesehene Talksendung im deutschsprachigen Raum, 553 Ausgaben in 16 Jahren, mehr als 1300 Gesprächsgäste“.
Anne Wills Sendung war vielmehr ein Gradmesser im Guten wie im Schlechten, ein Abbild der politischen Debattenkultur in diesem Land. Das bedeutet jahrelanges Schönreden, Schlafwandeln und zu wenig kritisches Nachfragen während der Ära der Bundeskanzlerin Angela Merkel („Wir schaffen das“). Und das bedeutet heute Aufwachen, Nüchternheit, Realitätssinn, ein Blick für den Rest der Welt, wie sie mit dem Überfall des russischen Präsidenten und Kriegsverbrechers Wladimir Putin eingesetzt haben. Die letzte Sendung von Anne Will an diesem Sonntagabend ist dafür das beste Beispiel. Besser als in dieser ist Anne Will nie gewesen.
Sie stellt nämlich – ganz entscheidend -, die richtige Frage: „Die Welt in Unordnung – Ist Deutschland den Herausforderungen gewachsen?“ Und sie hat die richtigen Gäste: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, den Schriftsteller und Friedenspreisträger Navid Kermani, den Historiker und Präsidenten der Stiftung Deutsches Historisches Museum, Raphael Gross, und die Politikwissenschaftlerin Florence Gaub, Direktorin des Forschungsbereichs am NATO Defense College.
Richtige Frage, richtige Runde
Das ist die richtige Runde, um über die gegenwärtige Weltordnung zu sprechen, welche die despotischen Regimes in China, Iran und Russland und eine Terrororganisation wie die Hamas nach ihren Maßstäben des Terrors und der Gewalt zu gestalten suchen, was viele im demokratischen Westen lange ignoriert haben, manche immer noch ignorieren oder gleich mit den Unterdrückern paktieren. Der Westen, sagt Navid Kermani, sei dabei, die Ukraine „mehr oder weniger fallen“ und ausbluten zu lassen und habe aus der Vergangenheit, wie der Einsatz in Afghanistan gezeigt habe, nichts gelernt: Die Versprechen waren nichts wert, je länger der Krieg in der Ukraine dauere, desto mehr schwinde unsere Unterstützung, spätestens in einem Jahr aber könnte sich – sollte in den Vereinigten Staaten tatsächlich Trump oder ein anderer radikaler Republikaner zum Präsidenten gewählt werden –, alles ändern. Dieses Zeitfenster müsse man nutzen.
Damit ist der Ton gesetzt, auch für Robert Habeck, der ja eigentlich Wirtschaftsminister und nicht Außen- oder Verteidigungsminister und auch nicht Bundeskanzler, aber derjenige ist, dem man vernünftige Antworten auf solche Fragen zutraut. Olaf Scholz redet zwar von einer „Zeitenwende“, aber immer so, als lasse sich diese mit ein paar Verordnungen regeln. In seinem Handeln bleibt er hinter den – wenigen – markigen Worten, die wir von ihm als Bundeskanzler bislang gehört haben, in erstaunlicher Selbstzufriedenheit zurück.