Der erste Einsatz hat Wirkung gezeigt: Vergangene Woche griff die Ukraine überraschend russische Ziele mit amerikanischen ATACMS-Raketen (Army Tactical Missile System) an. Davor war nicht offiziell bekannt, dass das Waffensystem schon in Kiews Händen ist. Die Einschläge auf die zwei Militärflugplätze um die russisch kontrollierte Stadt Luhansk in der Ostukraine und um das ebenfalls besetzte Berdjansk am Schwarzen Meer dürften Moskau überrumpelt haben.
Nach ukrainischen Angaben wurden neun Hubschrauber, ein Munitionsdepot und ein Luftabwehrsystem zerstört sowie Start- und Landebahnen beschädigt. Die Rechercheplattform Oryx bestätigte neun zerstörte Hubschrauber. Darunter auch sieben russische Kamow Ka-52-Kampfhubschrauber, die zu den modernsten des Landes zählen und der ukrainischen Gegenoffensive zeitweise erhebliche Schwierigkeiten bereitet haben. Ein russischer Militärblogger bezeichnete die Raketenangriffe gar als einen „der schwersten Schläge aller Zeiten“ seit Kriegsbeginn im Februar 2022.
ATACMS seien sehr präzise und manövrierfähige Raketen, sagt Markus Schiller, Fachmann für Fernflugkörper an der Universität der Bundeswehr in München. Sie könnten gegen Luftfahrzeuge im Hinterland, Kommandostände oder Nachschublinien eingesetzt werden. Die Raketen seien schwer abzufangen. „Die amerikanischen Ingenieure haben hier gute Arbeit geleistet.“ Sie seien, sagt er, auch vor dem Hintergrund effektiver Raketenabwehrsysteme entwickelt worden.
Unberechenbare Raketen
Schiller vermutet, dass das von Russland primär genutzte S-300-Abwehrsystem nicht in der Lage ist, ATACMS abzuschießen. Dafür seien die Raketen zu unberechenbar: Bei dem Eintritt in die Atmosphäre seien sie durch aerodynamische Hilfsmittel gut steuerbar und könnten Kurven fliegen. Dennoch behauptete das russische Verteidigungsministerium am Mittwoch, dass Luftverteidigungskräfte erstmals zwei ATACMS abgeschossen hätten, ohne weitere Details zu nennen.
Es sei klar, dass die ATACMS allein „nicht den Krieg gewinnen“, sagt Schiller. Aber sie zwängen die Russen unter anderem dazu, ihre Hubschrauberlandeplätze weiter nach hinten zu verlegen. Das schränke die Operationsmöglichkeiten ein.
Kiew bat Washington wochenlang um ATACMS-Raketen, um russische Ziele weit hinter der Front angreifen zu können. Die Vereinigten Staaten sträubten sich, weil sie ukrainische Attacken auf russisches Territorium befürchteten. Die „New York Times“ zitierte einen amerikanischen Beamten, dass eine Bedingung für die Lieferung sei, ATACMS nicht für Angriffe auf russisches Gebiet einzusetzen. Die Ukraine verfügt mit der französischen Scalp und britischen Storm Shadow bereits über Raketen mit größerer Reichweite – bei denen es sich im Gegensatz zu ATACMS aber um luftgestützte Marschflugkörper handelt.
Ukrainischer Außenminister rechnet mit weiteren ATACMS
Die ballistischen Boden-Boden-Raketen vom amerikanischen Hersteller Lockheed Martin werden üblicherweise von Kettenfahrzeugen abgefeuert und haben eine maximale Reichweite von 300 Kilometern. Die Version, die Kiew übergeben wurde, soll hingegen nur 165 Kilometer weit fliegen können. Bislang hat die Ukraine nur eine kleine Stückzahl erhalten. Auch deswegen dürften sie an Frontabschnitten wohl nicht zum Einsatz kommen, sagt Schiller. Dauerfeuer auf Kampfgebiete sei so nicht möglich. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sagte allerdings, dass er mit weiteren ATACMS aus den USA rechne.
Wie amerikanische Medien berichten, handelt es sich bei den gelieferten ATACMS um mit Streumunition bestückte Raketen der älteren Version M39. Auf modernere Varianten mit einer einzelnen Sprengladung wird Kiew wohl vorerst verzichten müssen. Die amerikanische Regierung teilte mit, dass sie die Raketen liefere, „ohne unsere militärische Bereitschaft zu gefährden“. Bei Streumunition werden Dutzende bis zu Tausende kleinere explosive Submunitionen – auch „Bomblets“ genannt – über ein größeres Gebiet verstreut.
Aufgrund der Streuung und weil die Submunition nicht immer wie vorgesehen explodiert, besteht eine größere Gefahr für Zivilisten als bei anderen Arten von Munition. Auch wenn Streumunition oft als international geächtet bezeichnet wird, ist ein Einsatz in Konflikten nur für diejenigen Länder verboten, die das Oslo-Übereinkommen zu Streumunition unterzeichnet und ratifiziert haben. Weder bei Russland, das die Munition im Ukrainekrieg ebenfalls eingesetzt hat, noch bei der Ukraine und den USA ist das der Fall. Washington lieferte Kiew bereits im Juli Streumunition in Form von M864-Artilleriegeschossen.
Die Streumunition bei den ATACMS könne auch eingesetzt werden, um größere Minenfelder zu räumen, sagt Fachmann Schiller. Auch das dürfte den ukrainischen Wunsch nach den Waffen verstärkt haben: Die riesigen russischen Minenfelder erschweren das Vorankommen von Kiews Gegenoffensive. Allerdings gebe es für die Minenräumung auch Waffen mit kürzerer Reichweite, sodass man nicht unbedingt die wertvollen ATACMS dafür „verschwenden“ müsste, sagt Schiller. Bei Angriffen auf Flugfelder könnten, anders als bei einer einzelnen Sprengladung, mehrere Kampfflugzeuge oder Hubschrauber gleichzeitig ausgeschaltet werden. Das hat Kiew gleich beim ersten Einsatz unter Beweis gestellt.