Nicht alle Teile der AfD haben sich gleich schnell entwickelt. Man könnte sagen: Die Partei erstreckt sich über mehrere Zeitzonen. Innenpolitisch ist sie in ihrer Gegenwart angekommen, in diesem Teil ist sie homogen geworden. In jahrelangen Streitigkeiten wurden kantige Mitglieder geschliffen oder vertrieben. Außenpolitisch ist das nicht so. Da ist die AfD noch ganz die alte: eine gespaltene, unversöhnte Partei.
Eine Ausnahme ist die Europapolitik, weil die AfD hier bei ihrer Gründung nur Gleichgesinnte anzog. In allen anderen außenpolitischen Fragen aber gab es nie den Druck, sich zu entscheiden. So kann es sein, dass in der AfD immer noch Kreml-Apologeten und frühere NATO-Offiziere in denselben Gremien sitzen und nicht fassen können, was die Vertreter der jeweils anderen Gruppe von sich geben.
Kürzlich schrieb der Parteivorsitzende Tino Chrupalla auf der Plattform X (vormals Twitter) einige Worte zum Nahostkonflikt, die er so ähnlich schon über die Ukraine gesagt hatte: „Ich trauere um alle Kriegstoten. Jetzt müssen die Staaten der Region auf Deeskalation setzen, um einen Flächenbrand abzuwenden. Diplomatie ist das Gebot der Stunde.“ Manche in der Partei wussten gar nicht, wo sie mit ihrer Kritik anfangen sollten.
Chrupalla hatte die ermordeten israelischen Zivilisten als „Kriegstote“ bezeichnet, was so klang, als verwechsle er den Gazastreifen mit einem souveränen Staat und die Terroristen mit regulären Soldaten. Er hatte von Terroristen absichtlich ermordete Zivilisten gleichgesetzt mit den zivilen Opfern durch israelische Luftschläge auf Hamas-Ziele. Und er hatte Deeskalation gefordert, bevor Israel zum Gegenschlag ausholen konnte. Das war ganz im Sinne der Hamas und Russlands, die sich eine Waffenruhe wünschen, bevor Israel in den Gazastreifen einrückt. Im Westen hingegen wird das Selbstverteidigungsrecht Israels anerkannt.
Urteil über Chrupalla: „Bestensfalls naiv“
Die eigenen Leute fielen über Chrupalla her. „Bestenfalls naiv“, schrieb der nordrhein-westfälische AfD-Landtagsabgeordnete Christian Loose. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Norbert Kleinwächter belehrte Chrupalla: „Hamas ist eine Terrororganisation. Als du in die AfD eingetreten bist, war diese noch gegen islamistischen Terror. Den unterbindet und vernichtet man.“
Auch von der AfD-Europaabgeordneten Sylvia Limmer kam eine Zurechtweisung: „Statt Israel das Verteidigungsrecht abzusprechen mit diesem unsäglichen Geschwurbel von Diplomatie sollten Sie lieber fordern: Ausnahmslos alle Islamisten ausweisen“. Und der AfD-Abgeordnete Rüdiger Lucassen, ein früherer Oberst, wurde gehässig: „Noch sind nicht alle Kinder-Leichen in Israel geborgen, da sprießen in Deutschland die ‚Diplomaten‘, ‚Völkerrechtler‘ ‚Historiker‘ und ‚Beide-Seiten-Versteher‘ wie Knollenblätterpilze aus dem Boden. Alles bekannt. Alles feige. Alles falsch.“
Vielleicht hatte Chrupalla einfach einen Fehler gemacht, der für nichts stand, außer für die politische Naivität, die hämische Parteifreunde dem Malermeister aus Sachsen gerne nachsagen. Es gab aber Abgeordnete, die Chrupalla verteidigten. Und bei denen wurde deutlich, dass sie eine außenpolitische Linie verfolgten; dass es also um mehr ging.
Der thüringische AfD-Sozialpolitiker Jürgen Pohl schrieb, Chrupalla habe der Partei das „Alleinstellungsmerkmal als patriotische Friedenspartei“ verschafft und sie damit im Ukrainekrieg zu Wahlerfolgen geführt. Das sei „gegen Widerstände transatlantischer Kreise“ geschehen, womit Leute wie Pohl meistens Leute wie Lucassen meinen. Die neue Linie laute: „Deutsche Interessen zuerst, Ausgleich mit Russland und rationale Außenpolitik“. Pohl fürchtet einen großen Krieg. „Jene, die damals der AfD einen extremen Pro-Ukraine-Kurs auferlegen wollten, lechzen erneut danach, dass Deutschland direkte Konfliktpartei wird“, schrieb Pohl. Als Nächstes werde es wohl heißen: „Bomben auf Teheran“.
Juden schützen – und Erinnerungskultur kritisieren?
Es ist also keine Geschmacksfrage, sondern eine grundsätzliche, über die in der AfD gestritten wird: Soll sich die deutsche Außenpolitik in der westlichen Wertegemeinschaft bewegen – oder soll immer nur der nationale Eigennutz zählen? Und: Wie definiert man den? Nützlich kann vieles sein. Auch die Unterstützung der Ukraine wird mit deutschen Interessen begründet. Manche AfD-Politiker aber lehnen solche Argumente immer dann ab, wenn sie eine wertebasierte Außenpolitik wittern, die sich irgendwo einmischt. Sie wünschen sich ein Gleichgewicht egoistischer Nationen.
In der AfD stehen nicht nur Transatlantiker, Kontinentalisten und Russlandfreunde gegeneinander. Viele Positionen sind in sich widersprüchlich und haben politische Nebenwirkungen. Die AfD versteht sich als Bollwerk gegen mörderische Islamisten, will aber friedliche Verhandlungen mit der Hamas? Die AfD will der beste Freund Israels sein, obwohl nicht alle in der Partei die Verteidigung Israels zur deutschen Staatsräson erheben wollen? Die AfD gibt vor, deutsche Juden vor muslimischem Antisemitismus schützen zu wollen, kritisiert aber die Erinnerungskultur an den Holocaust?
Etliche jüdische Organisationen, darunter der Zentralrat der Juden in Deutschland, erklärten einst gemeinsam: „Die AfD ist eine Partei, in der Judenhass und die Relativierung bis zur Leugnung der Schoa ein Zuhause haben.“ Schließlich hatten AfD-Mitglieder in der Vergangenheit schon Hitlerbildchen verschickt, spaßige Bilder an der Wolfsschanze gemacht, mit der Hand auf dem Herzen, und Juden als „inneren Feind“ des Abendlands bezeichnet. So was ist nicht leicht mit einer proisraelischen Haltung zu versöhnen. Macht die AfD es in der Außenpolitik wie in der Innenpolitik, wird sie Jahre brauchen, bis sie sich auf etwas geeinigt hat.