Die Brüder Lumière, Auguste (1862 bis 1954) und Louis (1864 bis 1948), gelten als die Erfinder des Kinos. Sie haben am 19. März 1895 in ihrer Lyoner Fabrik mit „La Sortie de l’usine Lumière“ („Arbeiter verlassen die Lumière-Werke“) ihren ersten Film gedreht. Im Dezember desselben Jahres hielten sie in Paris mit Projektionen auf Leinwand vor zahlendem Publikum die erste Kinovorstellung ab. Im Folgejahr gründeten sie mit der Eröffnung weiterer Säle in Frankreich und ganz Europa die erste – kurzlebige – Kinokette.
Diese Fakten sind weitherum bekannt – so bekannt, dass selbst entfernte Berufskollegen der Lumières auf ihnen Thesen aufgebaut haben, die mehr mit der Nostalgie nach einer mythischen verlorenen Unschuld der Kinematographie zu tun haben denn mit der Kenntnis der frühesten Filme. Nehmen wir zwei Äußerungen von Wim Wenders und von Maurice Pialat, die das jüngst nach Umbau wiedereröffnete Lyoner Musée Lumière in seinem Parcours anführt. Ersterer meinte: „Die Brüder Lumière waren ein wenig wie Kinder. Welche Bilder wären ehrlicher als die allerersten? Das sind Bilder, denen man trauen kann. Keine Manipulation, keine Kontamination, nichts als das Entzücken, dass es möglich war, sie einzufangen.“ Letzterer bedauerte, dass der „phantastische Realismus“ der Lumière-Brüder verloren gegangen sei: „Nach ihnen wurde alles gezinkt.“
„Alles Inszenierung“
Diesen Aussagen widerspricht Thierry Frémaux, seit 2007 Generaldelegierter des Festival de Cannes und schon seit 1999 Leiter des Institut Lumière, das das Museum trägt. In Ausschnitten seines 2016 vorgestellten Dokumentarfilms „Lumière! L’aventure commence“, die vor Ort ausgestrahlt werden, hält er Wenders und Pialat anhand von sieben Beispielen entgegen, dass bei den Lumières „alles Inszenierung“ gewesen sei. „La Sortie de l’usine Lumière“: eine reine Reproduktion der Realität? Es gibt in Tat und Wahrheit mindestens drei verschiedene Fassungen dieses Films (der auch nicht der „allererste“ war: Thomas Edison und sein Mitarbeiter und -erfinder William Kennedy Laurie Dickson hatten bereits seit 1891 zahlreiche Filme gedreht).
Manche der Arbeiterinnen und Arbeiter, die da durch das Tor der Lumière-Fabrik treten, werfen sich erkennbar in Pose. Sie wissen, dass ihr Auftritt verewigt wird, durch eine „vue photographique animée“ („bewegte Fotoansicht“), wie die Brüder ihre vierzig bis sechzig Sekunden kurzen Filmchen nannten. Noch stärker kontaminiert die Kamera das Leben in „Partie d’écarté“ („Ecarté-Spiel“). Der Ober, der da drei Kartenspielern Getränke serviert, gestikuliert und grimassiert wie ein Schmierenschauspieler. In „L’Arroseur arrosé“ („Der begossene Begießer“) wiederum rennt ein Gärtner einem Lausbuben, der ihm auf dem Schlauch steht, hinterher und zerrt ihn am Ohr zum Ausgangspunkt zurück.
Das macht nur deshalb Sinn, weil die beiden sonst am linken Bildrand verschwänden – und die Kamera gar zu gern festhalten möchte, wie dem Schlingel der Hintern versohlt wird. „Les Forgerons“ („Die Schmiede“) endlich hat durchaus dokumentarische Züge: Zwei echte Schmiede, Meister und Lehrling, traktieren da in einer echten Werkstatt echtes Metall. Nur dass Ersterer weißes Hemd und Krawatte trägt – er hat den Sonntagsstaat angezogen, um sich der Kamera von seiner besten Seite zu zeigen! Bei den Lumières ist eben „alles Inszenierung“.