Dem unauffälligen kleinen Gebäude sieht man nicht an, welche Zauberwelten in ihm erschaffen wurden. Versteckt unter hohen Bäumen, liegt der dreistöckige weiße Betonbau in einem gesichtslosen, grauen Viertel von Tokio, fast eine Stunde entfernt vom glitzernd-hippen Shibuya. Ein alter kleiner Japaner mit grauem Igelschnitt und runder Brille in Jogginghose und Adiletten schlappt durch die Eingangstür und grüßt freundlich. Ansonsten ist das Haus an diesem Tag ziemlich ausgestorben.
Dass von diesem Gebäude aus wie von kaum einem zweiten japanische Popkultur in alle Welt getragen wird, verraten bestenfalls einige selbst gemalte Plakate entlang der hölzernen Treppen. Wallace and Gromit sind auf einem davon zu sehen und senden „Liebe und Respekt und große Bewunderung“, auf einem anderen stehen die Hauptcharaktere der Monster AG gemeinsam mit dem runden Fellmonster Totoro an einer Straßenlaterne und übermitteln Hayao Miyazaki und seinem Studio Ghibli den Dank der Pixar Animation Studios für all die Inspiration.
Seit Hayao Miyazaki in den Achtzigerjahren gemeinsam mit Isao Takahata und Toshio Suzuki das Studio Ghibli gründete, ist er Pionier und Leitfigur des Animes gewesen. Mit Filmen wie „Mein Nachbar Totoro“, „Kikis kleiner Lieferservice“ und „Prinzessin Mononoke“ sorgte er dafür, dass die japanische Zeichentrickkunst in der ganzen Welt ein begeistertes Publikum fand. Im Jahr 2001 folgte „Chihiros Reise ins Zauberland“, für den er unter anderem einen Oscar erhielt – den bis heute einzigen für einen japanischen Anime-Kinofilm.
Niemand kann oder will sein Werk fortführen
Doch nun will Miyazaki, der am 5. Januar 83 Jahre alt wird, wirklich in den Ruhestand gehen. Mit „Der Junge und der Reiher“ hat er noch einmal einen großen Film kreiert, mit dem er an seine internationalen Erfolge anschließen könnte. In Japan war er einer der wichtigsten Filme des Jahres, obwohl sich Miyazaki und sein Produzent Suzuki den Spaß erlaubten, ihn ohne jegliches Marketing in die Kinos zu bringen. Als er Anfang Dezember in den Vereinigten Staaten anlief, erreichte er sogleich Platz eins der Kino-Charts. Der Film ist für zwei Golden Globes nominiert. In Deutschland kommt er am 4. Januar in die Kinos.
Doch die Ruhe, die an diesem Tag im Studio Ghibli herrscht, ist nicht nur eine Momentaufnahme. Mit dem Abtritt des Großmeisters steht die legendäre Filmproduktion vor einem veritablen Problem: Niemand kann oder will sein Werk fortführen.
Der alte Mann mit dem grauen Igelschnitt, der am Eingang grüßte, ist Toshio Suzuki, der Miyazaki über all die Jahrzehnte als Produzent zur Seite stand. „Das Studio ist Miyazaki“, sagt er im Gespräch mit der F.A.Z. Die Frage, wofür das Studio nach Miyazaki stehen soll, sei sein größtes Problem im Moment. „Das Studio, wie es war, hat sich komplett um Hayao Miyazakis kreativen Geist gedreht – ob das nun gut ist oder schlecht. Um es davon zu befreien, bräuchten wir hier eine neue talentierte junge Person, die eine ähnliche kreative Kraft entfalten kann“, sagt Suzuki.
Miyazaki ist bekannt dafür, dass er die stets komplexen und von vielschichtigen Charakteren getragenen Geschichten seiner Filme ohne Skript, komplett in Form sogenannter Storyboards, also gezeichneter Szenen, ersann und entwickelte. Filme in Kinolänge wurden dann mithilfe von mehr als hundert Zeichnern daraus – wobei bis zuletzt weitgehend auf Computertechnik verzichtet worden sein soll.
Derzeit sehe er ein solches Talent nicht, sagt Suzuki, weder im Studio Ghibli noch irgendwo sonst in Japan. Ein Grund dafür sei natürlich, dass die Zeichner, die zu Ghibli kamen, in Miyazaki immer das große Genie gesehen hätten. „Wenn sie eigene Ideen in die Arbeit einbringen wollten, mussten sie immer sehr dafür kämpfen.“