Wie der achtstündige Aufenthalt des türkischen Präsidenten in Deutschland vergangene Woche verlaufen würde, zeichnete sich schon ein paar Stunden bevor er in Berlin landete ab. Dass Erdoğan in der Zeit, da sein Privatjet Berlin ansteuerte, zum zweiten Mal die Website des türkischen Programms der Deutschen Welle sperren ließ, deutete die Atmosphäre an, in der die Pressekonferenz mit ihm und dem Bundeskanzler stattfinden würde. Denken Sie nicht, es sei Erdoğan nur darum gegangen, die Angriffe auf Gaza zu stoppen, als er auf der Pressekonferenz mit Blick in Scholz’ Augen sagte: „Wer Israel etwas schuldet, kann nicht frei reden. Wir waren nicht am Holocaust beteiligt.“
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Für Erdoğan ist jede Krise eine Chance, vor den in fünf Monaten stattfindenden Kommunalwahlen versucht er, Kapital aus dem Konflikt zu schlagen. Um den Stimmenanteil seiner Partei, der von rund 50 Prozent auf etwas über 30 gesunken ist, zu steigern, will er mit Palästina punkten, einem Thema, das der türkischen Öffentlichkeit am Herzen liegt. Nehmen Sie auch seinen Spruch „Wir lecken nicht auf, was wir ausgespien haben“, den er auf dem Rückflug nach Ankara vom Stapel ließ, nicht allzu ernst. Erdoğans jüngste Vergangenheit strotzt vor 180-Grad-Wendungen.
Fangen wir mit Gaza an. 2013 erklärte er, er werde nach Gaza fahren; in den zehn Jahren seither hat er nicht einmal seine Küsten gestreift. Zuvor waren islamistische Aktivisten mit dem Passagierschiff Mavi Marmara nach Gaza aufgebrochen. Natürlich mit Erdoğans Einverständnis und Unterstützung. Israelische Sicherheitskräfte gingen gegen das Schiff vor, als es sich Gaza näherte, dabei kamen zehn Aktivisten ums Leben. Erdoğan erklärte Israels Vorgehen zum „Staatsterrorismus“. Die türkische Justiz leitete rechtliche Schritte gegen die israelischen Soldaten ein. Wie es weiterging? Erdoğan erhielt 20 Millionen Dollar von Israel und ließ den Fall ad acta legen. Genau wie er die Akte des in Istanbul ermordeten Journalisten Khashoggi schließen ließ, um von den Saudis Geld zu bekommen.
Die Aktivisten, die sich per Schiff nach Gaza aufgemacht hatten, rügte er übrigens mit: „Habt ihr mich etwa gefragt?“ Das ist nicht der einzige Vorfall in Sachen „Ich lecke meinen Auswurf nicht auf“ bei Erdoğan. Auch über die Freilassung des amerikanischen Pastors Andrew Brunson und des „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel sowie zum NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens hatte er den Mund voll genommen und mehrfach geäußert: „Solange Leben in diesem Körper steckt, solange ich im Amt bin, lasse ich das nicht zu.“ Brunson ist wieder als Pastor in North Carolina tätig und Deniz Yücel als Journalist in Berlin. Finnland ist mit Zustimmung Ankaras der NATO beigetreten, den Beitritt Schwedens billigte Erdoğan persönlich und überwies ihn ans Parlament. Übrigens übt Erdoğan recht lebendig sein Amt im Palast weiter aus.