„Künstliche Intelligenz“ ist dieses Jahr das Kernthema bei der Digitalkonferenz DLD in München. Claudia Nemat, Innovationschefin bei der Deutschen Telekom, sagt: „KI bietet viele Chancen. Aber sie ist keine Wunderpille.“
CHIP: Frau Nemat, was hat die Telekom mit Künstlicher Intelligenz (KI) zu tun?
Claudia Nemat: Vieles. Wir nutzen Künstliche Intelligenz schon seit mehreren Jahren. Ein praktisches Beispiel ist die automatisierte Trassenplanung für die 2,5 Millionen Glasfaseranschlüsse, die wir pro Jahr verlegen. Das würde ohne Algorithmen und KI in dieser Größenordnung nicht funktionieren.
Das müssen Sie genauer erklären.
Nemat: Wir haben High Tech-Fahrzeuge, sogenannte T-Cars. Sie filmen, vermessen und analysieren mit Hilfe zahlreicher Kameras und Sensoren die Strecken für den Glasfaserausbau. Eine KI wertet die Bilder aus und berechnet die besten Trassen. Das erspart uns viele Stunden Vor-Ort-Begehung. Es gibt in Deutschland, aber auch bei der Telekom insgesamt, gar nicht so viele Glasfaserplaner, wie nötig wären, wenn wir diese KI nicht hätten.
Ist das der einzige Bereich, in dem die Telekom auf KI zurückgreift?
Nemat: Nein. Da gibt es viele mehr. Wir nutzen KI zum Beispiel auch zur effektiveren Abwehr digitaler Bedrohungen. Pro Minute gibt es 19.000 Angriffe auf das Netz. Künstliche Intelligenz hilft uns, schädliche Muster zu erkennen und in Echtzeit zu reagieren.
Haben Sie Richtlinien im Umgang mit KI festgelegt?
Nemat: Ja. Schon 2018 haben wir uns ethische Leitlinien für den Umgang mit KI gegeben. Meine Lieblingsleitlinie ist: Die abschließende Verantwortung liegt beim Menschen.
„KI ist eine wirkmächtige Technologie, aber es gibt auch Schattenseiten“
Das klingt widersprüchlich. Soll KI nicht den Menschen ersetzen?
Nemat : Nein. KI ist eine wirkmächtige Technologie. Man kann damit viele Probleme leichter lösen. Aber es gibt auch Schattenseiten. Bei der Telekom gehen wir „menschzentriert“ vor. Das bedeutet einerseits: KI-basierte Technologien sollen dem Menschen nutzen und ihm nicht schaden.
Und andererseits?
Nemat: Andererseits wollen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die Endverantwortung beim Menschen liegt. Unsere Kundinnen und Kunden sollen zum Beispiel immer wissen, ob sie mit einer KI oder einer echten Person sprechen.
Dazu kommt: Wir überprüfen regelmäßig die Ergebnisse der KI, die wir nutzen. Ein Algorithmus in einer unserer Landesgesellschaften schlug älteren Menschen zum Beispiel bestimmte Tarife nicht mehr vor. Das fanden wir altersdiskriminierend. Wir haben den Algorithmus dann korrigiert.
Sie arbeiten mit dem Unternehmen SK Telecom aus Südkorea an einer eigenen KI.
Nemat: Hier muss ich präzisieren: Wir nutzen und testen die verschiedensten Large-Language-Modelle. Wir nutzen zum Beispiel GPT 3.5 und 4 von OpenAI, probieren aber auch Open-Source-Modelle wie Llama von Meta aus. Ein anderer Chatbot, den wir testen, ist Claude von Anthropic.
Und das ist das Modell, um das es im Zusammenhang mit der SK Telekom aus Südkorea geht?
Nemat: Genau. Mit der SK Telecom arbeiten wir seit vielen Jahren bei unterschiedlichen Technologiethemen zusammen. Gemeinsam schicken wir nun das Anthropic-Modell in eine Art Sommerschule, um es „feinzutunen“. Wir wollen herausfinden, ob die Telekom damit Fragen besser beantworten kann als mit anderen Modellen. Ziel ist also nicht, eine eigene KI zu erfinden, sondern die besten bestehenden Technologien zu veredeln, bevor wir sie einbetten.
Wie sieht das konkret aus?
Nemat : Vor Jahren haben wir begonnen, einen KI-basierten Chatbot zu bauen, den unsere Kundinnen und Kunden nutzen können, wenn sie Hilfe brauchen. Seit einigen Monaten verwenden wir große Sprachmodelle auch für die Beantwortung von Nicht-Standard-Fragen.
Zum Beispiel: Ich habe Tarif X in Deutschland gebucht, welche Kosten kommen bei einem Aufenthalt in der Türkei auf mich zu? Außerdem gibt es einen Bot für Mitarbeitende. Ich nenne ihn gern den „Employee-Concierge“. Wer zum Beispiel als Glasfaser-Planerin oder -planer arbeitet, kann dem Chatbot Fragen stellen und muss nicht mehr umständlich 9000 Seiten an PDF-Dokumenten durchsuchen.
„KI ist ein Fahrrad fürs Gehirn“
Das heißt, die Telekom setzt bei Kunden und Mitarbeitern auf KI.
Nemat: Genau. Ich glaube, dass KI die Art, wie wir leben, lernen und arbeiten, massiv verändern wird. In der Telekommunikationsbranche, aber auch anderen Bereichen. Vielleicht können wir heute noch gar nicht erahnen, was alles möglich sein wird.
Verstehen Sie, dass das vielen Menschen Angst macht? Die Automatisierung, das Einbinden Künstlicher Intelligenz in immer mehr Alltagsbereiche?
Nemat: Absolut. Das ist aber nichts Neues. Auch, als Pferdekutschen durch Autos ersetzt wurden, hatten viele Menschen Angst. Weil die zweite Intelligenz – also die des Pferdes – wegfiel. Maschinelle Intelligenz fordert uns in einem besonderen Maß heraus.
Steve Jobs hat den Computer mal als „Fahrrad fürs Gehirn“ bezeichnet. Gleiches gilt für KI. Wir könnten damit schneller „fahren“ – aber das Fahrradfahren müssen wir erst ganz neu lernen. Zudem ist da die Angst vor Kontrollverlust. Ich denke: Wir sollten KI „umarmen“. Allerdings, ohne naiv zu sein.
Wie geht das?
Nemat: Am besten spielerisch. Bei der Telekom gibt es zum Beispiel ein Projekt namens LEX, Learning from Experts. Das ist ein internationales Mitarbeitendennetzwerk. Die Mitglieder bilden sich gegenseitig fort. Die Telekom hat sich außerdem zum Ziel gesetzt, europaweit 70.000 Mitarbeitenden Basiswissen zu KI zu vermitteln. Im vergangenen Sommer fand unser erster Promptathon statt. Menschen aus ganz Europa kamen und konnten an realen Aufgaben aus dem Tagesgeschäft Prompting ausprobieren.
Was genau soll sich durch den verstärkten Einsatz von KI bei der Telekom verbessern?
Nemat : Auf Kundenseite geht vieles schneller – Glasfaseranschlüsse werden rascher verlegt, Probleme effizienter gelöst. Außerdem lässt sich genauer vorhersagen, wo Störungen oder Fehler auftreten könnten. Zudem hilft KI, unseren Kundinnen und Kunden personalisierte Angebote zu unterbreiten. Auch unsere Mitarbeitenden bekommen durch KI schneller Antworten, zum Beispiel bei der Glasfaser-Planung oder im Marketing.
„KI hilft uns, schädliche Muster zu erkennen“
Wird durch Künstliche Intelligenz nicht alles unpersönlicher? Es wirkt so, als würde man irgendwann mit keinem Menschen mehr sprechen können, wenn es Probleme gibt.
Nemat : Es kommt immer auf die Kombination von Mensch und KI an, die Menschen unterstützen soll. Wir setzen daher bewusst weiter Menschen ein. So haben wir zum Beispiel Teams im Service, die sich darauf spezialisiert haben, älteren Personen telefonisch bei technischen Fragen zu helfen.
Uns ist wichtig, allen Kundinnen und Kunden das Gefühl zu geben, dass ihnen wirklich geholfen wird. Der Mensch steht immer im Mittelpunkt. Zudem gibt es nicht „den einen Kunden“. Meine Mutter hat andere Anforderungen an den Service als eine Vertreterin der Gen Z, die über die Magenta-App ihre Fragen geklärt haben möchte.
KI geht auch mit Risiken einher. Cyberangriffe werden raffinierter, außerdem können KI-Anwendungen Schwachstellen aufweisen – Stichwort: Prompt-Hacking. Wie wollen Sie Schaden durch KI bei der Telekom abwenden?
Nemat : Sowohl mit KI als auch mit Menschen. KI hilft uns, schädliche Muster zu erkennen und darauf zu reagieren. Aber Menschen bleiben wichtig. Wir haben mehrere eigene Red Teams. Das sind Mitarbeitende, die untersuchen, wie Computersysteme überlistet werden können. Dazu simulieren sie Angriffe. Manchmal engagieren wir auch externe Teams, um Sicherheitslücken zu finden und zu schließen.
Viele KI-Systeme haben noch Kinderkrankheiten. Ist es nicht gefährlich, sich zu schnell auf Künstliche Intelligenz zu verlassen?
Nemat : Natürlich ist es nicht ratsam, sich zu schnell auf KI zu verlassen. Ich finde es aber wichtig, sich mit der Technologie zu beschäftigen, sie auszutesten. Wir tun das anfangs immer in einem kleineren, kontrollierten Rahmen. Unser Motto lautet: „Security by Design“. Das heißt, wir setzen bei der Entwicklung von Hard- und Software darauf, sie von Anfang an möglichst ohne Schwachstellen und unempfindlich gegen Angriffe zu konzipieren. Wir testen viel. 100-prozentige Sicherheit gibt es aber nirgendwo.
Sie betonen immer wieder: „Lasst uns eine digitale KI-Chancenrepublik werden“. Wo genau soll Deutschland überall auf KI setzen?
Nemat : Ich bin überzeugt, dass KI gerade mit Blick auf den demografischen Wandel eine Chance sein kann. Es gibt in vielen Branchen nicht genügend Auszubildende, nicht genügend Menschen, die die anfallende Arbeit erledigen können. Stichwort: Fachkräftemangel.
KI-Modelle können das perspektivisch, zumindest teilweise, ausgleichen. Außerdem können Künstliche Intelligenz und Maschinen älteren Menschen helfen, länger selbstständig zu sein. Roboter lassen sich zum Beispiel für Haus- oder Gartenarbeit einsetzen.
„KI bietet viele Chancen, ist aber keine Wunderpille“
Gibt es noch andere Bereiche, in denen wir Ihrer Meinung nach auf KI setzen sollten?
Nemat: Auf jeden Fall.Sie ist zentral, um auf die Folgen der Klimakrise zu reagieren. In den Vereinigten Staaten nutzen wir KI, um hochaufgelöste Videos fest installierter 5G-Kameras auszuwerten. Die KI erkennt Rauchentwicklungen in Waldgebieten, also Anzeichen für Brände.
Die Feuerwehr kann auf diese Weise schneller anrücken und reagieren, bevor Waldbrände außer Kontrolle geraten. Das ist nur ein kleines Beispiel. Auch im Gesundheitswesen kann KI sinnvoll sein, zum Beispiel, um Krankheiten frühzeitig festzustellen. Letztlich bietet KI viele Chancen. Aber fest steht auch: Sie ist keine Wunderpille gegen jedes Problem, das wir haben.
Was sagen Sie Menschen, die Angst haben, durch KI ihren Job zu verlieren?
Nemat : Es gibt in der heutigen Zeit leider viele Dinge, die berechtigten Anlass zu Sorgen bieten. Veränderung als solche sollte aber nicht dazu gehören. Wichtig für uns Menschen ist, dass wir die Veränderungen gestalten und Angst vor Kontrollverlust überwinden. Jede neue Technologie hat die Arbeitswelt verändert. In der Retrospektive für die meisten Menschen zum Positiven.
Vor 150 Jahren gab es beispielsweise viel mehr Schmiede oder Weber, aber keine Taxifahrer oder Controllerinnen. Worauf ich hinaus will: Die Art der Arbeit wird sich verändern, durch alle Berufsgruppen. Wir machen es als Gesellschaft und Unternehmen dann gut, wenn wir dafür sorgen, dass die Menschen auf den Wandel vorbereitet sind und ihn gestalten.