Israel glaubt sich auf Stärke gebaut. Das zeigt sich nicht nur in diesen Tagen, in denen seine Feinde in der Region vernichtende Schläge einstecken müssen. Die ganze Selbstvergewisserung und Daseinsberechtigung des Staates der Juden beruht darauf. Das auf den Holocaust gemünzte „Nie wieder“, eine Art Leitspruch Israels, ist mit Wehrhaftigkeit und militärischer Dominanz verbunden.
„Wir kämpfen, also sind wir“, schrieb der ehemalige Ministerpräsident Menachem Begin in Abwandlung von Descartes. Man sieht das im Alltag, wo Uniformen und Waffen allgegenwärtig sind. Man spürt es im Verhalten von Menschen, die gelernt haben, sich durchzusetzen. Man hört es von offizieller Seite: Reden Benjamin Netanjahus sind in der Regel kraftstrotzende Kampfansagen. Aus einer Position der Stärke heraus Partner in der Region zu finden, lautet seine Strategie, die in den „Abraham-Abkommen“ zu fruchten schien.
Ein Koloss auf tönernen Füßen
Vor einem Jahr brach all das zusammen. Etwa 4000 bewaffnete Palästinenser aus dem Gazastreifen überwanden im Morgengrauen die angeblich rundum gesicherte Grenze nach Israel. Die Gräueltaten, die sie in einem kaltblütigen Rausch begingen, verstören bis heute jeden mitfühlenden Menschen. Ebenso fassungslos sind viele Israelis nach wie vor darüber, dass ihr Militärapparat sich offenbar als Koloss auf tönernen Füßen entpuppte, wenn auch nur für einen Tag.
In Gesprächen wird immer wieder deutlich, dass viele das Urvertrauen in das Sicherheitsversprechen des Staates verloren haben. Der israelische Journalist Ben Caspit schrieb über den 7. Oktober, bis zu jenem Tag habe nach dem Wort Israel ein Ausrufezeichen gestanden. „Plötzlich wurde daraus ein Fragezeichen.“ Nicht nur in Israel selbst war das so. Der 7. Oktober 2023 ist ein Ereignis von weltgeschichtlichem Rang. Die Schockwellen jenes Tages sind in vielen Ländern bis heute spürbar.
Israels Krieg im Gazastreifen zeigt, was eine Demütigung wie der 7. Oktober in einer von historischen Opfererfahrungen durchdrungenen und zugleich auf Stärke ausgerichteten Gesellschaft auslösen kann. Das grundsätzlich gerechtfertigte Vorgehen gegen die Hamas nahm schnell Züge eines Rachefeldzugs an. Die flächendeckenden Bombardierungen, bei denen Zehntausende getötet wurden, haben eine Begleitmusik in Form gewaltverherrlichender Videos und zynischer Äußerungen von Soldaten und Politikern.
Wohin führt der Kurs Israels?
Kritik aus dem Ausland daran wird brüsk zurückgewiesen – mit einem Ausrufezeichen: Wir lassen uns nicht reinreden! Die internationale Gerichtsbarkeit ist aber offenbar nicht zahnlos, sodass Regierung und Armee doch immer wieder Korrekturen vornehmen, ohne grundsätzlich vom Kurs abzuweichen.
Wohin der führen soll, ist auch nach einem Jahr nicht klar. Während manche westlichen Regierungen eine unverhoffte Gelegenheit erblickten, die Zweistaatenlösung voranzutreiben, war Netanjahu nie ein Anhänger dieses Modells. Gegenwärtig sieht es eher so aus, als könnte der Gazastreifen ein zweites Westjordanland werden – von Israel besetzt, mit schwacher palästinensischer Lokalverwaltung. Währenddessen laufen Teile des Westjordanlands Gefahr, sich zu Miniatur-Gazas zu entwickeln: militante Enklaven, in die Israels Armee regelmäßig einrückt.
Den Palästinensern eine nationale Perspektive zu bieten ginge aber mit Kompromissen einher, die nicht nur innenpolitisch brisant wären, sondern auch ein Abweichen von der Politik der Stärke. Da kann der amerikanische Präsident Joe Biden noch so sehr mit einem Friedensschluss mit Saudi-Arabien werben.
Antisemitismus tritt offen zutage
Israel wird wohl ein Land bleiben, das infrage gestellt und angefochten wird. Antisemitismus tritt seit dem 7. Oktober weltweit offener zutage und findet neue Anhänger, immer mehr Juden fühlen sich nicht sicher. Zugleich werden Kritik und Ablehnung Israels schneller als Antisemitismus gebrandmarkt. Debatten über Israel sind sowohl eine Projektionsfläche als auch ein Brandbeschleuniger für bestimmte gesellschaftliche Konflikte.
Tragisch ist, dass Israel gleichzeitig immer häufiger ein Gesicht zeigt, das den Zerrbildern mancher Kritiker entspricht. Nach dem 7. Oktober wurden bürgerliche Freiheitsrechte beschnitten. Wer öffentlich Mitgefühl für Palästinenser zeigt oder für eine Waffenruhe wirbt, läuft Gefahr, beschimpft und attackiert zu werden. Der Polizei droht die Übernahme durch den religiös-nationalistischen Scharfmacher Itamar Ben-Gvir, dessen Partei bezeichnenderweise „Jüdische Stärke“ heißt.
Ob das vorübergehende Erscheinungen in einer Gesellschaft sind, die durch den Schlag vom 7. Oktober ins Wanken geraten ist, oder ob Israel grundsätzlich auf eine abschüssige Bahn gerät, lässt sich nicht abschließend sagen. Klar scheint hingegen, dass es auf absehbare Zeit weitere Machtdemonstrationen geben wird. Damit es wieder „Israel!“ heißt. Mit Ausrufezeichen.