Es gab eine Zeit, zu der Menschen bei einem Häuserbrand angeblich als erstes nicht Bargeld und Sparbuch gerettet haben, sondern das Fotoalbum der Familie. Diese Zeit dürfte vorbei sein, seit unsere Erinnerungen über den Umweg des Telefons nicht nur in einer Cloud gespeichert sind, zu der wir von überall her und mit den unterschiedlichsten Hilfsmitteln Zugriff haben, sondern sie uns vom Telefon darüber hinaus in der Rubrik „Für Dich“ alle paar Tage neu nach Themen, Personen, Orten oder Daten zusammengestellt werden – mal mit barocken Melodien unterlegt, mal mit krachendem Pop. Dabei könnte man bisweilen glauben, der Algorithmus wisse sehr viel genauer, wer wir sind, wie wir fühlen und wo wir waren, als wir selbst. Was keineswegs bedeutet, dass man sich die Fragen nicht hin und wieder stellen sollte.
„Memory“, „Identity“ und „Emotion“ sind die drei zentralen Ausstellungen der fünften Triennale der Fotografie in Frankfurt, Ray, überschrieben. Jeweils kleine Präsentationen, von denen eine verspätet erst in vier Wochen beginnt. Das Städel ist bei dem Festival wieder einmal ausgeschert. Das Museum für Moderne Kunst steht nur als Vortragssaal zu Verfügung. Manche Partner lassen sich mit ihren Eröffnungen sogar bis Ende Juni Zeit.
Das ist nicht gerade ein fulminanter Start, trotz allerhand Veranstaltungen im Laufe dieses Wochenendes, und die Frage muss erlaubt sein, ob es dafür ein eigenes Festival braucht – oder ob, umgekehrt, es sich womöglich keine Großstadt von Hamburg, Leipzig und Berlin bis Köln oder Düsseldorf und dem Großraum Mannheim/Ludwigshafen mehr leisten kann, nicht mitzutun im Reigen der Foto-Feste und deren inflationärem Umgang mit dem Medium – als müssten jedem Fotografen fünfzehn Tage Ruhm gesichert werden. Und als brauchten die beteiligten Institutionen immer mal wieder einen Schub – unter Marketingaspekten.
Das kann ich nicht
Dabei scheinen die Besucherzahlen den Veranstaltern Recht zu geben, wobei man sich wundern muss, in welch krassem Missverhältnis sie zur momentanen Rolle der Fotografie auf dem Buch- und Kunstmarkt stehen. Anschauen ja, kaufen nein. So gewinnt man den Eindruck. Und dann hört man vor mancher Wand auch nicht, wie früher im Museum, die Behauptung: „Das kann ich auch“, sondern die Frage: „Wie haben die das bloß gemacht?“ Denn Dank des Handys glaubt heute ja jeder, selbst Fotograf sein können. Dabei sollte die Frage viel eher heißen: „Was haben die sich bloß dabei gedacht?“
Zumindest wie ein Wasserzeichen schimmert sie hinter den fünf im Fotografie Forum ausgestellten Positionen auf. Identität: Das ist in der beachtlichen Schau die Überschrift für Fragen nach Herkunft und Geschlecht. Bekannt ist die fast schon klassisch zu nennende Arbeit „Transformer“ von Jürgen Klauke, der sich dafür in den Siebzigerjahren in enge Kleidung zwängte und mit allerhand Utensilien aus dem Fachhandel für erotisches Zubehör behängte.
Das war zu jener Zeit, als die schillernden androgynen Figuren des Glam Rock die Hitparaden stürmten, womöglich ein viel weniger provokantes Spiel, als es heute nachhallt – mit dem Ruch, in Zonen des Verbotenen vorgedrungen zu sein. Die Fotografie wird dabei gleichermaßen Dokumentation eines Auftritts in Verkleidungen wie ein Kunstwerk, das die Reihe der Ahnen- und Herrschaftsporträts früherer Epochen auf bizarre Weise in eine verstörende Richtung treibt. Es ist ein Austesten von Möglichkeiten, mit denen die Frage nach dem Ich nicht beantwortet, sondern durchdekliniert wird.
Direkt auf historische Vorbilder aus der Malerei bezieht sich die Mexikanerin Mónica Alcázar-Duarte, wenn sie in folkloristischen Kostümen Posen der Casta-Malerei einnimmt, einer Richtung aus dem achtzehnten Jahrhunderts, die in ihren Porträts die sozialen Hierarchien im kolonialisiertem Lateinamerika darstellte, nicht zuletzt der indigenen Bevölkerung. Dabei reißt sie durch Übermalungen Aspekte der Ausbeutung ebenso von Menschen wie Bodenschätzen an – und findet in der vom Aussterben bedrohten Maya-Biene eine überraschende Metapher für den Antikapitalismus.
Einer anderen Form von Ausbeutung widmet sich Joy Gregory, die Schönheit und deren Ideale infragestellt. Schon 1990 trat sie als Schwarze mit ihren Selbstporträts den Konventionen in der Welt der Werbung und der Frauenmagazine entgegen, um einen eigenen Standpunkt zu finden. Von Einfluss und Widerstand berichtet auch der Inuit Inuuteq Storch, der in Venedig aktuell den dänischen Pavillon der Biennale bespielt. Im „Fotografie Forum“ stellt er intimen Beobachtungen aus dem Alltag der ostgrönländischen Siedlung Sisimiut Momentaufnahmen aus den Straßen New Yorks gegenüber – mit dem Gedanken, wie viel der eigenen Kultur in Grönland überdauert hat. Und mit dem Verschwinden und Verwandeln schließlich beschäftigt sich Dinu Li, der seine dreiundneunzig Jahre alte Mutter gebückt durch Gärten schickt und sie mit geheimnisvollen Gesten die ausgerottete Geister Orchidee darstellen lässt.
Von Teufeln umgeben
Das ist alles sehr anrührend und führt umstandslos zur zweiten zentralen Ausstellung im Museum für angewandte Kunst: „Emotions“, in der die Kuratoren mit den Arbeiten von Diego Moreno belegen, wie unscharf die Themen von einander abgegrenzt sind. Denn der mexikanische Künstler setzt sich in übermalten Fotos aus dem Familienalbum mit seiner Homosexualität in einem streng religiösen Haushalt und den Problemen, die sich daraus ergeben haben, auseinander. Da ihm dabei allerdings kaum mehr einfällt, als Teufelchen zwischen oder über die Familienmitglieder zu malen, wäre die Arbeit womöglich in der noch zu eröffnenden Ausstellung „Memories“ besser aufgehoben.
Wie auch Anton Kusters ein Stück Erinnerungskultur schafft – wenngleich von minimalistisch-konzeptueller Art. Er hat im Laufe von sechs Jahren den blauen Himmel über 1078 Konzentrationslagern und Tötungsanstalten des NS-Regimes fotografiert und in die Bilder GPS-Daten der Orte und Zahl der Toten geprägt. Das hallt noch einige Zeit nach, ganz im Sinne des komplett weiblich besetzten Kuratoriums, das unter dem Festivaltitel „Echoes“ Fotografie als einen Resonanzraum präsentieren möchte.
Über alle Veranstaltungen des Festivals informiert die Homepage: www.ray-triennale.com.