Mit neuen Beschlüssen ist nicht zu rechnen, wenn sich die 16 Länderchefs und Kanzler Olaf Scholz (SPD) an diesem Mittwoch treffen, um über Fortschritte in der Migrationspolitik zu beraten – aber mit verschärften Streit. Denn während vor allem unionsregierte Bundesländer kaum Besserung sehen, nimmt die Bundesregierung für sich in Anspruch, schon viel auf den Weg gebracht zu haben. Sie sieht die Länder in der Pflicht und verweist auf das im Januar beschlossene „Rückführungsverbesserungsgesetz“, das es ihnen ermöglichen soll, mehr und schneller abzuschieben.
Zudem, so heißt es in der Ampel, bereite man sich bereits auf die nationale Umsetzung der auf EU-Ebene beschlossenen Reform der Gemeinsamen Europäischen Asylpolitik (GEAS) vor und sei im Austausch mit Juristen und Migrationsexperten, ob Asylverfahren in Staaten außerhalb der EU rechtlich möglich seien. Vergangene Woche legte die Koalition zudem ihren Streit über eine bundeseinheitliche Regelung der Bezahlkarte für Asylbewerber bei.
Tatsächlich aber hat der Bund laut einer dreiseitigen Tabelle aus dem Kreis der Länder bisher lediglich sechs von 29 seiner „Aufträge“ aus der letzten Ministerpräsidentenkonferenz vom November 2023 erledigt. Sie sind grün in der Tabelle markiert, die der F.A.Z. vorliegt. Ihr Titel: „Stand der Umsetzung der Aufträge an den Bund aus dem Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Bundeskanzler vom 6.11.2023 ‚Flüchtlingspolitik – Humanität und Ordnung‘“. Zu den grün markierten Maßnahmen zählen unter anderem mehr Bundesmittel für Sprach- und Integrationskurse. Als „nicht vollständig oder nur teilweise umgesetzt“ (gelb) werden in der Übersicht 19 Maßnahmen bewertet. „Keine Umsetzung“ (rot) gibt es bei vier Maßnahmen.
Wüst: Liste der unerledigten Hausaufgaben „ellenlang“
Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sagte der F.A.Z., beim vergangenen Migrationsgipfel hätten Bund und Länder in einer Kraftanstrengung gute Beschlüsse gefasst. „Das ist jetzt 17 Wochen her – und die Inventur der gefassten Beschlüsse von November fällt ernüchternd aus“, so Wüst. „Die Liste der unerledigten Hausaufgaben durch die Ampelregierung ist ellenlang.
Die Beschleunigung der Asylverfahren von Menschen mit geringer Anerkennungsquote, die weitere Stärkung der europäischen Grenzagentur Frontex, die Erneuerung des EU-Türkei-Abkommens, Migrationsabkommen mit wichtigen Herkunftsländern oder die Prüfung von Asylverfahren außerhalb Europas – das ist nur ein kurzer Auszug von gar nicht oder höchstens teilweise umgesetzten Vereinbarungen.“
Unter der Untätigkeit des Bundes litten nicht nur Städte und Gemeinden, ehrenamtliche Helfer sowie überforderte Schulen und Kitas. „Darunter leiden auch die Flüchtlinge, die unsere Hilfe brauchen“, so Wüst. Die Bürger und Kommunen fragten zu Recht, was die Bundesregierung über den Winter getan habe, um im Frühjahr und Sommer, wenn das Mittelmeer wieder leichter zu überqueren ist, höhere Zugangszahlen und damit die absehbare Überforderung zu vermeiden, sagte Wüst weiter.
Dass durch das Rückführungsverbesserungsgesetz unter anderem die Höchstdauer des Ausreisegewahrsams von bisher zehn auf 28 Tage verlängert wurde, bezeichnete Wüst gegenüber der F.A.Z. als „Schein-Hilfen für vermeintlich leichtere Rückführungen“. Nach Einschätzung aus dem Kreis der Länder dürfte der Effekt der Novelle hinter den hohen Erwartungen zurückbleiben, weil auf Drängen der Grünen noch kurzfristig Veränderungen vorgenommen worden waren. So wird befürchtet, dass die neu eingeführte Pflichtbeiordnung eines Rechtsanwalts dazu führt, dass der Ausreisegewahrsam durch Verfahrensverzögerungen in vielen Fällen verstreicht, ohne dass es zur Abschiebung kommt.
Nicht auf Europa warten
Während bereits eine neue Flüchtlingskrise am Horizont heraufziehe, so Wüst, lege der Bund die Hände in den Schoß. Nichts spreche vor dem Hintergrund von Gaza- und Ukrainekrieg dafür, dass die Flüchtlingszahlen 2024 sinken könnten. „Im Gegenteil: Es spricht viel dafür, dass es 2024 sogar noch mehr Flüchtlinge werden als im vergangenen Jahr.“
Auch den Hinweis der Bundesregierung auf die GEAS-Reform hält der nordrhein-westfälische Ministerpräsident für wenig hilfreich. „Bis die Asylreform der EU 2026 in Kraft tritt, kommt es besonders auf die nationalen Regierungen und bilaterale Initiativen an. Der Handlungsbedarf ist jetzt da.“ Die Bundesregierung müsse sich dringend um Partnerländer entlang der Fluchtrouten bemühen, in denen rechtssichere Verfahren stattfinden und in denen Menschen sicher unterkommen könnten. „Wir müssen hier nicht auf Europa warten. Auch Deutschland für sich kann souverän handeln, um Probleme zu lösen, das ist auch dringend notwendig“, sagte Wüst der F.A.Z.
Großbritannien stecke gerade durch konkrete Politik den rechtlichen Rahmen von Drittstaatslösungen ab. Italien habe mit Albanien bereits ein Migrationsabkommen vereinbart. Europa erlebe gerade eine Asylpolitik der zwei Geschwindigkeiten – und Deutschland gehöre zur Fraktion „Schneckentempo“. Dabei müsse die irreguläre Migration endlich beendet werden, damit man denjenigen Menschen gerecht werden könne, die wirklich Hilfe brauchten, weil sie vor Krieg und Vertreibung fliehen, so Wüst.