Keinen Oscar zu gewinnen kann auch etwas Gutes haben. „Dass unser Film leer ausgegangen ist, hat uns zumindest einen kleinen Skandal erspart“, deutete İlker Çatak, der Regisseur des nominierten Schuldramas „Das Lehrerzimmer“, einen Fauxpas während der Academy Awards an. Leonie Benesch hatte bei der Preisverleihung im Dolby Theatre drei Stunden zuvor ein paar Schrecksekunden erlebt.
„İlker entschloss sich, den Saal zu verlassen, um sich ein Glas Wasser holen. Er war nicht da, als unsere Kategorie angekündigt wurde“, sagte die Schauspielerin. Noch während eine Platzordnerin per Kopfhörer versuchte, Çatak in den Saal zu manövrieren, erklärten Bad Bunny und Dwayne Johnson das Historiendrama „The Zone of Interest“ mit der Thüringerin Sandra Hüller in der Hauptrolle zum besten internationalen Film. „Und du warst nicht da, du hast dir ein Wasser geholt“, sagte Benesch, immer noch ein wenig fassungslos bei der Vorstellung, Bad Bunny und Johnson hätten auf der Bühne „Das Lehrerzimmer“ als Gewinner ausgerufen.
„Schon dass wir nominiert wurden, war eine unglaubliche Auszeichnung“
İlker Çatak gab zu, dass er das amerikanische Tempo unterschätzt hatte. Vor dem Auslands-Oscar hätten schließlich noch Kategorien wie Make-up und Production Design auf dem Programm gestanden. „In Deutschland dauert das zwei Stunden“, sagte der Berliner Filmemacher. Erst als ihm auf den Bildschirmen in der Lobby plötzlich Jonathan Glazer, der Regisseur des Mitbewerbers „The Zone of Interest“, bei seiner Dankesrede auffiel, habe er sich einen Augenblick lang gewundert.
Obwohl in der Nacht zu Montag neben Çataks „Das Lehrerzimmer“ auch Wim Wenders’ für Japan ins Rennen geschickte Produktion „Perfect Days“ leer ausging und Hüller für ihren Part in dem französischen Justizdrama „Anatomie eines Falls“ keinen Oscar als beste Hauptdarstellerin holte, wurde auf der Dachterrasse des Hotels Dream Hollywood eher ausgelassen bei Cocktails und Tacos gefeiert.
„Wir sind null enttäuscht. Schon dass wir nominiert wurden, war eine unglaubliche Auszeichnung“, sagte Ingo Fliess, der Produzent des „Lehrerzimmers“. Und die Zeremonie? „Wahnsinnig toll, amüsant, auf den Punkt“, fasste Fliess seine vier Stunden im Dolby Theatre zusammen. Billie Eilish und ihr Titel „What Was I Made For?“ nannte er „hinreißend“, Ryan Goslings pinkfarbene Tanz-Sing-Einlage zu „I’m Just Ken“ atemberaubend.
Auch der Seitenhieb gegen Hüller und ihre Rollen, den der Moderator Jimmy Kimmel in seinem Eröffnungsmonolog austeilte, konnte dem Neunundfünfzigjährigen die Feierlaune nicht verderben. Kimmel, Nachfahre deutscher und italienischer Einwanderer, hatte gewitzelt: „,In Anatomie eines Falls‘ spielt Sandra eine Frau, die sich wegen des Mordes an ihrem Mann vor Gericht verantworten muss. In ,The Zone of Interest‘ eine Nazi-Hausfrau, die in der Nähe von Auschwitz lebt. Für amerikanische Kinobesucher sind das schwere Themen, in Sandras Heimat Deutschland sind das romantische Komödien.“
„Wie beim Deutschen Filmpreis, nur in Amerika“
Während die etwa 300 Besucher der Viewing Party noch debattierten, ob Kimmels Spott amüsant oder geschmacklos war und ob „Oppenheimer“ tatsächlich sieben Goldritter verdient hatte, staunte Çatak über die Atmosphäre bei den 96. Oscars. Die Filmschaffenden im Dolby Theatre, unter ihnen Weltstars wie Steven Spielberg, Emma Stone und Bradley Cooper, habe er als „extrem nahbar“ wahrgenommen. „Das sind normale Leute. Die trinken genauso Wasser wie wir. Sie sind eben Kollegen“, sagte der Neununddreißigjährige.
Auch wenn es für „Das Lehrerzimmer“ nicht zu einem Oscar reichte, habe die Nominierung ihn und sein Team auf eine Reise geschickt. „Ich glaube, dass unser Film vielen Leuten in der Branche Hoffnung gegeben hat, dass ein Projekt nicht die große Explosion sein muss, sondern dass man mit gutem Kino doch sehr weit kommen kann“, sagte Çatak. Die größte Überraschung der Oscar-Nacht? „Dass wir alle Kollegen sind, selbst bei den Oscars. Es war wie beim Deutschen Filmpreis, nur in Amerika.“
Benesch, die Hauptdarstellerin des deutschen Kandidaten für den internationalen Academy Award, fühlte sich derweil von ihrer amerikanischen Kollegin Emma Stone inspiriert. In der Dankesrede nach dem Goldritter als beste Hauptdarstellerin für ihren Part in „Poor Things“ hatte die Fünfunddreißigjährige nicht nur ihre Mitbewerberinnen Annette Bening, Lily Gladstone, Carey Mulligan und Sandra Hüller genannt. Eher unerwartet hatte sich Stone auch bei der Crew bedankt. „Das war genauso ungewöhnlich wie schön“, sagte Benesch, zog sich eine Jacke über das schwarze Spitzenkleid und verschwand.
Auch bei Michael Klammer, der in „Das Lehrerzimmer“ Beneschs Kollegen Thomas Liebenwerda spielt, saß die Enttäuschung alles andere als tief. Dass „Zone of Interest“ das Rennen um den Auslands-Oscar macht, sagte der Vierundvierzigjährige, habe er erwartet. „Der Film ist stark, ein würdiger Gewinner.“
Für den 14 Jahre alten Leonard Stettnisch, im echten Leben Klammers Sohn, im Film das Kind der Schulsekretärin Friederike Kuhn, wäre der Oscar die „Kirsche auf der Torte“ gewesen. Aber auch ohne Goldritter war die Reise nach Los Angeles für den Fan des „Oppenheimer“-Darstellers Cillian Murphy ein Erfolg. „Ich habe ihn im Dolby Theatre gesehen“, sagte Stettnisch. „In der Nacht, in der er seinen Oscar bekommen hat.“