Wie kann es sein, dass diese deutsche Autorin immer noch als Geheimtipp gilt? Mit ihren Büchern „Schnell, dein Leben“ (2016) und „Eine gewöhnliche Familie“ (2018) hatte sich Sylvie Schenk, geboren 1944 im französischen Chambéry, zuletzt im autofiktionalen Genre als Pendant zu Annie Ernaux profiliert, ohne uns über ihren höchst individuellen Zugang im Zweifel zu lassen: fragmentarisch wie die Erinnerung, skeptisch gegen das eigene Ressentiment, zweifelnd an der eigenen Rolle im Familienspiel und am Schreibtisch, präzise, klug und voll Witz, hart und doch zart. Am Anfang von „Maman“, der Geschichte ihrer Mutter, weiß die Erzählerin nicht, ob das, was sie schreibt, ein Roman sein wird, doch sie weiß: „Es wird ein approximativer Text.“ Aber weil Sylvie Schenk ihre Annäherung vollzieht, indem sie die Lücken der Überlieferung und des Gedächtnisses mittels Imagination und Einfühlung füllt, kommt eben doch ein Roman heraus.
„Sie war ein stummer Mensch mit blauen Augen und einem Verstand, der damit beschäftigt war, seine Mängel zu kaschieren.“ Ein solcher Satz über die eigene Mutter ist unerhört, mag die Ich-Erzählerin auch noch so glaubwürdig betonen, sie „habe sie geliebt, wie man ein seltsames Wesen liebt, das zu einem gehört, ein Geheimnis, das man bewahrt“. Doch Sylvie Schenk hat sich nun einmal für Klartext entschieden, sie verzichtet auf den biographischen Weichzeichner, und „Geheimnis“ ist ein Schlüsselwort des Romans: Dass die Herkunft der Renée Gagnieux im Dunkeln lag, auch für sie selbst, dass das Rätsel darum die Kindheit der fünf Geschwister verdüstert und „das Leben meiner Mutter ausgehöhlt hat, eine mittelalterliche Tropffolter“, setzt für die Tochter Recherche und Selbstbefragung in Gang: „Mamans Leben und mein Leben sind miteinander verflochten wie zwei unterschiedlich gefärbte Wollfäden im schlecht gestrickten Pullover einer Penelope, die auf sich selbst wartet.“
Renée ist diese Penelope, die auf sich selbst wartet, lebenslang und vergeblich. Sie strickt mit mechanischer Hingabe, liest, wenn überhaupt, Trivialliteratur, macht sich nichts aus Wandern und Schifahren, ihr Mann, kein Odysseus, sondern Zahnarzt aus gutem Hause, unternimmt seine Touren allein. Das Paar ist von Lyon in die Berge gezogen, nach Gap in Hautes-Alpes. Die Geschwister erinnern sich später an einen ganz mit sich selbst beschäftigten Vater und an eine lieblose und gleichgültige Mutter, die „keine Moral“ hatte, aber zwei eherne Prinzipien der Erziehung: nur ja nicht zu spät zum Essen kommen und nur ja kein uneheliches Kind kriegen! Das entspricht durchaus dem Comme-il-faut der bürgerlichen Familie, doch bei Renée steckt mehr dahinter: Sie ist ein Adoptivkind, was ihre dünkelhaften Schwiegereltern sie zeit ihres Lebens spüren lassen. Und sie kennt nicht einmal den Namen ihrer Mutter, geschweige denn den ihres Vaters.