Verstappen lässt nach. Vor einem Jahr hatte er zwölf Runden gebraucht, um von Rang 14 ganz nach vorne zu fahren beim Großen Preis von Belgien. Am Sonntag brauchte der Formel-1-Weltmeister 17 Touren für die Rückkehr zu seinem Stammplatz, obwohl er als Sechster gestartet war. Der fünfte Getriebewechsel, verbunden mit der Rückversetzung des Schnellsten im Qualifying um fünf Plätze, hatte den Weltmeister nicht sonderlich geärgert, schon gar nicht bewegt, von seinem Anspruch abzuweichen: „Ich will gewinnen, klar.“
Gesagt, getan. Im zwölften Rennen der Saison gelang dem Niederländer der zehnte Sieg, der achte in Serie, diesmal vor seinem weit abgeschlagenen Teamkollegen Sergio Perez im Red Bull. Dritter wurde Ferrari-Pilot Charles Leclerc vor Lewis Hamilton im Mercedes. Nico Hülkenberg erreichte im Haas als 18. das Ziel.
Jeden holt er ein
Zweifel an Verstappens Siegermentalität sind längst passé. Aber in Spa gelang ihm eine besondere Demonstration seiner lässig vorgetragenen Zuversicht, aus allem das Beste zu machen. Am Freitag Schnellster unter schwierigen Bedingungen im Startplatzrennen für den Grand Prix. Am Samstag hauchdünn Erster der Qualifikation für den Sprint. Beim abends folgenden Kurzstreckenrennen auf trocknender, tückischer Piste nach drei Verschiebungen und einem Platzverlust wie selbstverständlich im Ziel der Erste. Jeden holt er ein.
Am Sonntag erst das große Talent Oscar Piastri im McLaren sowie Carlos Sainz (Ferrari) kurz nach dem Start. Dann schoss er an Rekordweltmeister Hamilton im Mercedes sowie Leclerc mit einem satten Geschwindigkeitsüberschuss vorbei. Das liegt am Boliden, der davonfliegt auf den Geraden, vor allem, wenn das Heckflügelelement flach gestellt werden darf.
Das einzige technische Mittel, den erst 25 Jahre alten Niederländer auf Abstand zu halten, ist derzeit der zweite Red Bull – bei entsprechender Besetzung. Aber Perez hatte kaum Zeit, den Hintermann im Rückspiegel wahrzunehmen, da sah er ihn schon vor sich und hurtig entschwinden in den Kurven des Hohen Venn. Um drei Sekunden ließ Verstappen den Mexikaner innerhalb von drei Runden hinter sich, 13 waren es nach 34 Touren, 23 nach 44 (im Ziel). Eine Deklassierung im Stallduell. Perez wirkte dennoch zufrieden.
„Niemand sieht gut aus neben Max“
Nicht mal der unfreiwillig eingeräumte Vorsprung am Start reicht dem Teamkollegen, Verstappen eine besondere Herausforderung zu bescheren. Das war selbst in der Ära Hamilton selten der Fall. Immerhin musste sich der Rekordpilot 2016 Nico Rosberg im Kampf um die WM geschlagen geben und auch sonst in Acht nehmen, wenn der in Monaco aufgewachsene Deutsche die Kurve bekam. Zuletzt verfuhr Michael Schumacher vor zwanzig Jahre so vergleichbar vernichtend mit den meisten seiner Stallgefährten wie nun Verstappen.
Perez, an guten, Tagen, sie sind zu selten, einer der Schnellsten, kommt seit Ende Mai nicht mehr konstant in die Gänge. Zu Saisonbeginn sah er sich, nach zwei Siegen, noch als Herausforderer. Just zur Sommerpause ist sein Rückstand als Zweiter der Fahrerwertung auf 125 Punkte angewachsen. „Niemand“, sagte Red Bulls Sportdirektor Helmut Marko dem TV-Sender Sky, „sieht gut aus neben Max. Das muss man erstmal psychologisch verarbeiten.“
Vielleicht gibt Red Bull im Herbst die Antwort auf die Frage, wer Verstappen nahe kommen, wer ihn vielleicht schlangen könnte. Es ist noch gewagt zu behaupten, Piastri habe das Zeug dazu, weil der 22 Jahre alte McLaren-Pilot am Samstag spektakulär Zweiter hinter Verstappen im Sprint wurde. Im Grand Prix schied der Australier nach einer Kollision in der ersten Kurve nicht ganz unschuldig aus.
Aber der abgeklärte, ruhige, fokussierte Auftritt des Formel-1-Debütanten verspricht mittelfristig Konkurrenz. Da kommt er in Schwung. Solange Hamilton oder Fernando Alonso (Aston Martin/5.) nicht kurzfristig neben Verstappen Platz nehmen werden, was ausgeschlossen ist, gibt es wohl nur einen, der den Champion schlagen kann: Verstappen.
Schreckmoment in Eau Rouge
Am Sonntag war er nicht weit davon entfernt. Als er nach einem kurzen Regenguss auf feuchter Piste nach dem Anstieg hinter der berühmten Senke Eau Rouge bei Tempo 300 auf Abwege geriet: „Ups, ich hätte das Auto beinahe verloren.“ Ob es an einer Ablenkung lag, die der Feind der Dominanten ist, weil, so einsam in der Umlaufbahn kreisend, die Gedanken schweifen?
Dass Verstappen allerlei durch den Kopf schoss, blieb nicht verborgen am letzten Renntag vor den dreiwöchigen Sommerferien, bevor die Sause Verstappens in Zandvoort, in der Heimat, fortgesetzt wird. Geriet er doch bei voller Fahrt in einen nüchtern ausgetragenen Disput am Funk mit seinem Renningenieur über das, was zu tun und zu lassen ist auf dem Weg zu einem ungefährdeten Sieg.
Gianpiero Lambiase riet ihm nach ein paar Widersprüchen eindringlich, doch bitte seinen Instruktionen zu folgen. Als Lambiase später Verstappen warnte, auf den Reifenverschleiß zu achten, also das Oberstübchen einzuschalten („Nutze mehr deinen Kopf“), konterte der Chefpilot: „Ich könnte noch ein bisschen Druck machen und wir legen noch einen Stopp ein, üben einen Boxenstopp.“ Getan hat er was anderes. „Wir sehen ja die Daten“, sagte Verstappen nach dem Rennen, „da muss man schon ein bisschen aufpassen. Wir haben dann etwas langsamer gemacht.“ Dennoch kam der erste Ferrari erst 32 Sekunden später ins Ziel, der erste Mercedes brauchte fast 50 Sekunden länger.