Ich werd verrückt!“, ruft die Seniorin in Jeansjacke und Sonnenbrille. „Da draußen rennt einer rum und behauptet, dass hier nie Busse mit Häftlingen weggefahren sind.“ Ob das denn nachts passiert sei, oder wie komme der Mann darauf, fragt sie jetzt Elke Schlegel, die am Samstag in einer einstigen Haftzelle steht, die baugleich ist mit der, in der Schlegel hier, mitten in Chemnitz, vor 40 Jahren eingesperrt war. Der Bus mit ihr sei morgens um zehn Uhr abgefahren, erzählt Schlegel, daran erinnere sie sich genau. Gegen Mittag hätten sie Jena passiert, ihre Heimatstadt, und um 16 Uhr sei der Bus in Gießen angekommen, dem Notaufnahmelager für DDR-Flüchtlinge. „Wusst ich’s doch“, sagt die Seniorin und empört sich abermals über den Mann, der das bestritten habe. „Das geht doch nicht, das macht mich wütend.“ Sie setzt die Brille auf und stürmt hinaus.
Zurück bleiben Schlegel und ihr Sohn Tony, die in der Zelle auf ihr früheres Leben blicken. Fotos zeigen beide mit Mann und Vater Anfang der Achtzigerjahre in der DDR und dann wenige Jahre später in der Bundesrepublik. Tony auf den Schultern seines Papas bei einem Ausflug, Elke Schlegel bei der Hochzeit in Koblenz in den Armen ihres Mannes. Die Zeit dazwischen sei die schlimmste ihres Lebens gewesen, sagt Schlegel.