Wie hat Marine Le Pens Partei es geschafft, 10,5 Millionen Wähler zu gewinnen?
Der Wahlerfolg ist die Fortsetzung der Gelbwesten-Bewegung. Er beruht auf der Verdrossenheit der Franzosen, die sich von der wirtschaftlichen Entwicklung ausgeschlossen fühlen. Marine Le Pen hat im Großen und Ganzen das Programm der Gelbwesten übernommen. Sie ist die Anwältin derjenigen, die die europäisch gesonnene Regierungselite in Paris ablehnen. Sie verkörpert die Rache des peripheren Frankreichs. Ich sehe das an meiner Heimatstadt Dreux, 75 Kilometer von Paris entfernt. Es gibt medizinische Versorgungslücken, in Dreux zum Beispiel keinen Gynäkologen. Die Menschen sind auf das Auto angewiesen, aber erleben immer mehr Einschränkungen: Tempolimit, steigende Kraftstoffpreise, Verbot alter Autos, und steigende Kaufpreise für neue. Und die öffentlichen Verkehrsmittel, die immer schlechter funktionieren. In Dreux arbeiten Tausende von Menschen in Paris. Die Leute fühlen sich verachtet. Das deckt sich mit ihrer Wahrnehmung Macrons. Sein Vorgänger Hollande war gemütlich, er plauderte mit den Leuten, nahm sich nicht so ernst. Aber gegen Macrons narzisstische und hochnäsige Art wehren sie sich.
Spielt die katholische Prägung Frankreichs noch eine Rolle?
Marine Le Pen hat frühzeitig erkannt, dass das Christentum nicht verbindend ist. Überall dort, wo Populisten ein Programm der christlichen Normativität in den Vordergrund stellen, verlieren sie, wie in Polen oder Vox in Spanien. Überall dort, wo sie einen säkularen und genussbetonten Lebensstil verteidigen, gewinnen sie, wie Wilders in den Niederlanden, wie die Sozialdemokratische Partei in Dänemark. Selbst Giorgia Meloni in Italien spricht die traditionalistischen Katholiken wenig an. Meloni und Marine Le Pen greifen Sitten an, die von links kritisiert werden. Ein Beispiel ist das Leihmutterschaftsverbot in Italien. Viele Feministinnen sind gegen die Leihmutterschaft! Meloni und Le Pen sind klug und verwenden linke Argumente. Sie sind gegen die Vermarktung der Frauenkörper.
Ist der Wahlerfolg Le Pens demnach einem europäischen Trend geschuldet?
Europa hat sich weitgehend säkularisiert, selbst in Italien, wo die Kirche immer noch ein enormes Gewicht hat. Die Menschen gehen nicht mehr zur Messe. Die Werte der 1968er, der hedonistische Individualismus, haben in Europa gesiegt. Die sexuelle Freiheit ist eine Errungenschaft. Wir erleben weder den Faschismus noch die Rückkehr zur traditionellen Familie. Das zeigt sich im persönlichen Leben aller populistischen Politiker. Neu ist, dass diese Werte von Freiheit und Selbstbestimmung nicht mehr als universell betrachtet werden. Die Populisten sagen: unsere europäische Lebensweise wird von anderen nicht geteilt. Frankreich ist ein Sonderfall, weil hierzulande die Trennung von Religion und Staat besonders ausgeprägt ist. Die Laizität sollte den Bürgern helfen, sich zu emanzipieren. Doch daraus ist ein identitätsstiftender Diskurs gegen den Islam geworden. Präsident Macron hat in seiner großen Rede gegen den islamistischen Separatismus daran mitgewirkt.
Haben die islamistischen Terroranschläge in Frankreich nicht auch dazu beigetragen?
Die Terroranschläge sind für die Wahrnehmung des Islam sehr prägend. Hinzu kam die vorherrschende Erklärung, wonach die Radikalisierung zuerst religiös und dann terroristisch sei. Präsident Macron hat diese Lesart befördert. In den Schulen sind die Direktoren angehalten, schon bei Zehnjährigen schwache Signale einer möglichen Radikalisierung zu erkennen, wie ein Zitat aus dem Koran im Unterricht. Die große Stärke von Marine Le Pen ist, dass sie einen Diskurs übernehmen kann, der von der bürgerlichen Mitte ausgearbeitet wurde.
Aber fühlt sich nicht gerade Frankreich durch den radikalen Islam herausgefordert?
Die große Frage ist doch, was man gegen Terroristen verteidigt. Die EU gründet auf universellen Werten. Doch hat eine Verschiebung stattgefunden. Europa hat angefangen, seine Werte nicht mehr als universell, sondern als identitätsstiftend zu betrachten. Das sah man an der Debatte über einen EU-Kommissar für Kultur. Man konnte sich nicht einigen und hat sich darauf verständigt, ihm die Förderung der europäischen Lebensweise aufzutragen. Im Prozess zu den Pariser Terroranschlägen hat der Richter zum Abschluss gesagt, die Terroristen hätten unsere Lebensweise angegriffen. Der ganze Gerichtssaal stimmte zu. Es war eine Attacke auf unseren hedonistischen Lebensstil, auf junge Leute, die Musik hören, zusammen ausgehen, sich amüsieren, Alkohol trinken. Das Geniale an den Populisten ist, dass sie diesen Lebensstil verteidigen. Sie sind keine Faschisten, sie verteidigen nicht die Aufopferung für die Nation, den Übermenschen, die Selbstüberwindung.
Woran ist Macron gescheitert?
Der Präsident verachtet seine eigene Partei und die Abgeordneten. Er hat nicht einmal versucht, seine Partei lokal zu verankern. Alle Parteien, außer den Sozialisten und den Republikanern, funktionieren inzwischen auf populistische Weise rund um einen charismatischen Führer, der sich direkt an das Volk wendet und die Parteimitglieder außer Acht lässt. Vor der Parlamentsauflösung hat Macron nicht mit einem Abgeordneten gesprochen! Macron