Es war der tödlichste Tag für Libanon, seit die Hizbullah am 8. Oktober den Grenzkrieg mit Israel eröffnete. Kein Tag während des Krieges aus dem Jahr 2006 war so tödlich. Mehrere Wellen harter Luftangriffe hatten das kleine Land am Montag getroffen, vor allem im Süden und in der Bekaa-Ebene im Osten, mehrheitlich von der schiitischen Klientel bewohnte Hochburgen der Hizbullah. Sie zogen sich bis in die Nacht. Doch auch das christliche Bergland war von der Luftangriffskampagne betroffen, der die israelische Führung den Namen „Nördliche Pfeile“ gegen hat. Es gab einzelne Angriffe in Gegenden, wo schiitische Enklaven liegen.
Zehntausende flohen vor den Attacken und kämpften sich durch die verstopfte Küstenstraße, wo der Verkehr zweitweise völlig zum Erliegen kam. In Beirut gab es am Abend Tumulte vor Hotels, weil Verzweifelte kein Zimmer mehr fanden. Schulen wurden geräumt und zu Notunterkünften umgerüstet.
Das libanesische Gesundheitsministerium, das die Berichte aus den Krankenhäusern sammelt, meldete zuletzt fast 500 Tote, unter ihnen 58 Frauen und 35 Kinder. Das ist schon fast die Hälfte der Toten, die der Sommerkrieg von 2006 gefordert hat – und der dauerte 34 Tage. Die israelische Armee gab an, sie habe mehr als 1300 Ziele angegriffen und eine „große Zahl an Hizbullah-Kämpfern“ getötet. Darüber, wie viele genau unter den Toten Zivilisten waren, herrschte am Dienstag noch Unklarheit.
„Das ist nicht in ihrer DNA“
Ebenso die Frage, ob sich die Eskalation jetzt weiter beschleunigt, oder ob der Krieg wieder gezähmt werden kann. Israel hat als Kriegsziel ausgegeben, dass Zehntausende durch die Kämpfe vertriebene Israelis in Sicherheit in ihre Häuser zurückkehren können. Die Hizbullah soll die Angriffe einstellen und sich mehrere Kilometer von der Grenze zurückziehen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat angekündigt, nicht nachzulassen und zu tun, was er für nötig erachte, um dieses Ziel zu erreichen. Eine Bodenoffensive schließt Israel nicht aus, hatte zuletzt Truppen an die Nordgrenze verlegt, und laut der Einschätzung aus Sicherheitskreisen könnte diese auch ohne Verzögerung anlaufen. Israelische Regierungsmitarbeiter hatten zuletzt die Erzählung lanciert, es gehe um „Deeskalation durch Eskalation“.
Dass diese Taktik aufgeht, dass die Schiitenorganisation jetzt dem militärischen Druck nachgibt, daran herrschen aber unter Diplomaten und Experten große Zweifel. „Das ist nicht in ihrer DNA“, sagt Nicholas Blanford, Buchautor und Hizbullah-Experte von der Denkfabrik Atlantic Council, der seit Jahrzehnten in Libanon lebt. Die Organisation werde nicht kapitulieren, egal wie viel Gewalt Israel einsetze. Die Anführer der Hizbullah haben auch wiederholt die Devise ausgegeben, dass der Sieg darin bestehe, Israel daran zu hindern, seine Kriegsziele zu erreichen. Die Verhandlungsbereitschaft für einen Grenzdeal hat die Schiitenorganisation an ein Ende der Gewalt im Gazastreifen geknüpft. Sie will den Guerrilla-Luftkrieg mit Israel weiterführen, und dürfte dazu auch lange in der Lage sein.
Die Bedingungen für eine erfolgreiche Beruhigungsoffensive stehen daher schlecht. Die libanesische Regierung, die Israel einen „Vernichtungskrieg“ vorwarf, hat keinerlei Einfluss auf die Hizbullah. Auch der europäische Einfluss auf die Konfliktparteien hält sich in engen Grenzen. Davon zeugte schon der Umstand, dass Yves Le Drian, Sonderbeauftragter des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, in Beirut zu Gast war, als Israel seine Luftrangriffskampagne führte. Der neue französische Außenminister Jean-Noël Barrot fordert angesichts der angespannten Lage nun eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats.
Die Vereinigten Staaten versuchen zwar, die dramatische Eskalation wieder einzuhegen. Präsident Joe Biden versicherte, man arbeite weiter hart daran und Regierungsmitarbeiter sprachen von „konkreten Ideen“, die sie mit Verbündeten und Partnern besprechen wollten. Aber auch Washington hat mehrmals die Erfahrung gemacht, dass Netanjahu eigenen Interessen folgt. Vor allem, was den Widerwillen gegen einen Waffenstillstand im Gazastreifen betrifft, der einen Ausweg aus der Gewaltspirale im Libanon-Krieg eröffnen könnte.
Mäßigungsbemühungen aus Iran?
Iran, das die Hizbullah aufgerüstet hat und lenkt, scheint den Konflikt zumindest nicht weiter befeuern zu wollen. Während die israelische Luftwaffe Teherans wichtigsten Verbündeten bombardierte, äußerten sich die Funktionäre des Regimes konziliant zu einer möglichen Annäherung an die Vereinigten Staaten. Präsident Massud Peseschkian beschuldigte Israel, sein Land provozieren zu wollen, einen voll entfesselten Krieg in der Region zu beginnen. „Wir wollen nicht die Ursache von Instabilität im Nahen Osten sein, denn die Folgen wären unumkehrbar“, sagt er in New York. „Wir wollen in Frieden leben, wir wollen keinen Krieg.“
Ob und wie lange der iranische Revolutionsführer und die iranischen Revolutionswächter, die eigentlich in dieser Sache das Sagen haben, die Angelegenheit genauso sehen, ist offen. Hizbullah-Experte Blanford glaubt allerdings, dass Iran die Hizbullah aus Eigeninteressen mäßigen wird, wenn die auf die Operation „Nördliche Pfeile“ mit einem Gegenschlag antwortet. Am Montag hatte sie Raketen tief ins israelische Landesinnere abgefeuert, hatte aber auch da ältere Systeme benutzt, nicht aber ihre Präzisionsraketen mit großer Reichweite. „Die Iraner wollen nicht, dass die Hizbullah in einen umfassenden Krieg mit Israel zieht, denn das wäre gleichbedeutend damit, dass sie ihr bestes Mittel zur Abschreckung gegen jeden, der Iran direkt angreifen will, wegwerfen würden.“ Sie müsse die Schläge Israels hinnehmen.