Ewig jung, ewig schön, ewig leben. Im Near-Future-Thriller „Paradise“ scheint das kein unerfüllbarer Wunsch mehr zu sein. Jedenfalls für diejenigen, die es sich leisten können, Lebenszeit von einer anderen Person auf sich selbst übertragen zu lassen. Das Biotech-Unternehmen Aeon macht es möglich: Menschen können ihre Lebenszeit verkaufen und jemand anderem geben – sofern die DNS kompatibel ist.
Der Regisseur Boris Kunz, der gemeinsam mit Peter Kocyla und Simon Amberger auch das Drehbuch geschrieben hat, inszeniert mit „Paradise“ einen verstörenden Zukunftsentwurf. Vor allem zu Beginn besticht der Film mit der Einführung in die dystopische Welt des Lebenszeittransfers.
Plötzlich 40 Jahre älter
Max (Kostja Ullmann) arbeitet für Aeon als „Donation Manager“. Er soll mögliche Spender überzeugen, ihre Lebenszeit gegen Geld einzutauschen, moralische Bedenken hat er keine, und sein Leben scheint nahezu perfekt: Max wird zum Mitarbeiter des Jahres gekürt, seine Frau Elena (Marlene Tanczik) und er wollen eine Familie gründen. Doch dann brennt die teure gemeinsame Wohnung ab – und die Versicherung zahlt nicht.
Weil Elena ohne Max’ Wissen 40 Jahre ihres Lebens als Sicherheit hinterlegt hat, muss sie sofort 38 Jahre hergeben. Dann erfährt Max, wer vom Zeittransfer profitiert hat, und greift zu extremen Mitteln, um die gestohlenen Jahre seiner nun stark gealterten Frau (fortan gespielt von Corinna Kirchhoff) zurückzuholen.
„Paradise“ erinnert mit seinem Konzept Lebenszeit als Währung an den Science-Fiction-Thriller „In Time – Deine Zeit läuft ab“ mit Justin Timberlake und Amanda Seyfried in den Hauptrollen. Allerdings hat dort Lebenszeit Geld als Währung vollständig abgelöst, wohingegen in dem von Simon Amberger, Korbinian Dufter und Rafael Parente produzierten Netflix-Film für den faustischen Pakt ein operativer Eingriff und genetische Kompatibilität nötig sind. Gleich ist bei beiden Filmen aber, dass vor allem reiche Menschen vom System profitieren.
Der Film, der in Deutschland und Litauen gedreht wurde, verdichtet und überspitzt aktuelle Entwicklungen von Schönheits- und Jugendwahn, organisierter Kriminalität sowie radikalem Aktivismus bis zur wachsenden Kluft von Arm und Reich. Vor allem Letzteres schafft bei „Paradise“ eine interessante Prämisse: Arme sind mittlerweile so arm, dass sie letztlich nur noch ihre Lebenszeit anbieten können – und die Reichen nehmen es an.
Holprige Momente in „Paradise“
Kopf hinter dem Transfer ist die Aeon-Chefin Sophie Theissen, die Iris Berben mit reichlich Charisma ausstattet. Auch Theissen würde sich gern verjüngen lassen, hat aber noch keinen passenden Spender gefunden. Sie gibt sich philanthropisch, stellt etwa eine Stiftung vor, die allen Nobelpreisträgern umsonst zusätzliche Lebensjahre verschaffen soll. Den Klimawandel hätten sie schließlich auch bereits besiegt, da die reichsten Menschen mit Aussicht auf mehr Zeit auf der Erde doch noch an deren Erhalt interessiert gewesen seien und in den Klimaschutz investiert hätten – eine gelungene Anspielung auf die Gegenwart und die gerade bei Promis zu besichtigenden aktuellen Ausformungen des Versuchs, Alter und Tod zu besiegen.
Die immer mal wieder in der Stadt zu sehenden Schilder mit der Aufschrift „Stop Ageism“ zeigen deutlich die Doppelmoral der Bewohner des dystopischen Berlins: Sie werben für mehr Akzeptanz von alten Leuten in der Gesellschaft, diskriminieren sie aber täglich, indem sie der ewigen Jugend hinterherforschen – und sich mitunter so viele Jahre transferieren lassen, dass aus erwachsenen Frauen Kinder werden.
Wie verändert also ein möglicher Lebenszeittransfer die Gesellschaft? Kann er moralisch vertretbar, zum Beispiel bei großer Geldnot, sein? Und was bedeutet der Verlust von Jahren oder Jahrzehnten für Betroffene und deren Angehörige? Elenas extrem schneller Alterungsprozess soll all diese Fragen vor Augen führen, emotional nimmt ihre Geschichte den Zuschauer allerdings leider nicht besonders mit.
Und auch die Handlung hat ihre holprigen Momente. Die Actionszenen sind mal mehr, mal weniger spannend und überzeugend. Dass sich am Ende jede der Figuren moralisch neu ausrichtet, erscheint zu forciert und unglaubwürdig. Vielleicht stellen wir uns einfach selbst die Frage, wie weit wir gehen würden, um unsere Lebenszeit zu retten.
Der Film Paradise startet am Freitag, 27.7. bei Netflix.