Ein Jahrzehnt ist es her, dass Giulia Enders’ Sachbuch „Darm mit Charme“ auf den internationalen Bestsellerlisten stand. Allerdings hatten sich abseits der leicht verdaulichen populärmedizinischen Ratgeber schon lange Kulturgeschichten einzelner Körperteile etabliert. Analysen von Ohren oder Händen, wissenschaftliche Aufsätze zu Gesäß oder Haut sowie Museumsausstellungen über den Tastsinn zeugen vom ungebrochenen Interesse daran, wie wir unsere Leiblichkeit in der Welt erleben.
Jetzt ist die Zunge dran. Der Literaturwissenschaftler Florian Werner hat diesem Muskel ohne Knochen und Knorpel ein Porträt gewidmet, in dem es gleichermaßen um biologische Grundlagen und kulturelle Darstellungen geht. Die Zunge, das wird schnell klar, ist allgegenwärtig und ausgesprochen vielseitig. Sie ist Teil des Mundraums, kann den Körper aber bei Bedarf verlassen. Sie erlaubt Genüsse beim Essen oder erotischer Art – und gilt daher immer als leicht vulgär. Sie verleiht uns die Fähigkeit zu sprechen und verbindet uns zugleich anatomisch mit Tieren, „mit sabbernden Hofhunden, Fliegen fangenden Fröschen oder Katzen, die mit der Zunge das kotverschmierte Fell ihres Nachwuchses saubermachen“.
Zungen sind ausgesprochen unattraktiv, mit einer Oberfläche, die sich „zwischen Krötenhaut und nass gewordenem Schmirgelpapier“ bewegt. Doch ihre Erscheinungsformen – diejenige der Giraffe misst ganze fünfzig Zentimeter – und die Fähigkeit der auf ihrer Haut angesiedelten Papillen und der darin enthaltenen Geschmacksknospen, verschiedene Aromen zu erkennen, ist so faszinierend wie im Zweifelsfall lebensrettend: Eine möglicherweise giftige Speise kann im letzten Moment erkannt und wieder hinausbefördert werden.
Das Eingangstor zum Schreckensreich
Werner betrachtet tierische und menschliche Zungen im Wechsel und schließt an die Erkenntnisse der derzeit prominenten Sinnesgeschichte an, die die kulturelle Prägung des Körpers betont, ohne die biologischen Grundlagen zu verleugnen. Es ist angenehm, dass der Autor dabei nur sparsam auf Pierre Bourdieu zurückgreift, dessen soziologische Studien über den Geschmack als Mittel der feinen sozialen Unterschiede sonst oft als erschöpfende Theorie for all things tasteful dienen.
Das Buch ist kurz und gerät doch an einigen Stellen zu lang. Die Freude des Autors an seinen Beispielen aus der Populärkultur überträgt sich nicht immer auf das Publikum. Inhaltsangaben von Filmen, die nicht jeder gesehen hat, oder Beschreibungen von Werken, die nicht abgebildet sind, stören den Lesefluss. Dass das Innere des Körpers lange als Entsprechung der Unterwelt gelesen wurde, lässt sich zwar anhand von zahlreichen Quellen gut nachzeichnen: Frühneuzeitliche Menschen in Not verschwinden im Rachen von Ungeheuern, der biblische Prophet Jesaja spricht vom Totenreich, das seinen Schlund weit aufgesperrt habe. Aber dann wird es doch schnell recht wild, wenn der Autor schreibt, der Mundraum gleiche „dem Höllenrachen“, nämlich „als Eingangstor zu diesem Schreckensreich, wobei die Zunge wie ein feuerroter Teppich fungiert, der ausgerollt wird, um die Sünder in den endzeitlichen Abgrund rutschen zu lassen“.
Gelegentlich lässt sich Werner, dessen vorangegangene Bücher zur Weisheit von Vögeln oder „Elternschaft als philosophisches Abenteuer“ Zeugnis für seine Beschäftigung mit Mensch, Tier und Umwelt ablegen, von der Begeisterung über sein Thema mitreißen. Ob die Zunge tatsächlich das „orale Erhabene“ verkörpert, das den Menschen schier überwältigt, darf man bezweifeln: „Die Machtlosigkeit, die wir gegenüber unserer Zunge empfinden, versinnbildlicht im Kleinen den Mangel an Einfluss, den wir im nationalen und erst recht globalen Maßstab in Bezug auf politische, ökonomische und ökologische Prozesse erfahren.“ Kurz: Wir lebten in nichts anderem als dem „Zeitalter der Zunge“, dem Glossozän.
Ein körperliches und soziales Phänomen
In diesem Fall ist solch eine Überhöhung unnötig, denn die Zunge ist, wie der Autor zeigt, ein fesselnder Muskel. Sie kann lecken, schlabbern, saugen, schmatzen, schnalzen oder klicken. Sie kommuniziert nicht nur in Sprachen, sondern auch in sozialen Codes. Rausgestreckt gilt sie als Auflehnung gegen Konventionen oder als Beleidigung.
Für Andre Agassi war die Zunge seines Gegners sogar ein spielentscheidender „Vektorpfeil in die Zukunft“: Er las an Boris Beckers Zunge, die den Mund des Tennisstar zuverlässig beim Aufschlag in verschiedene Richtungen verließ, erfolgreich die Bahn des Balles ab. Welche Effekte der Umgang mit Zungen selbst nur in der Beschreibung auslösen kann, zeigt sich im Kapitel „abschneiden“. Ob herausgerissen oder abgesäbelt – die verschiedenen Arten, antike Christen, nordamerikanische Sklaven oder heutige Opfer von Krieg und Verbrechen zu verstümmeln, lassen den Leser zusammenzucken.
Die Zunge, schreibt Werner, ist ein körperliches und soziales Phänomen, oft übersehen, aber bereits vor der Geburt essenziell für unsere Selbstvergewisserung in der Welt: Babys nuckeln schon im Mutterleib am Daumen oder nippen am Fruchtwasser. Sie ist zugleich eminent politisch, sei es, weil sie durch ihre Präsenz beim Lachen Armin Laschet möglicherweise die Kanzlerschaft kostete, sei es, weil der türkische Präsident noch 2022 erklärte, wer den Propheten Adam beleidige, verdiene es, die Zunge herausgerissen zu bekommen.
Florian Werner: „Die Zunge“. Ein Portrait. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2023. 224 S., geb., 24,– €.