Im Herbst 1979 reiste ich auf Einladung des Moskauer Schriftstellerverbands zum dritten und letzten Mal in die UdSSR. Was ich nicht wusste, aber ahnte: Es handelte sich bei solchen Einladungen an Künstler und Intellektuelle nicht selten um An- oder Abwerbungsversuche vonseiten des KGB, dessen Vertrauensmann, ein Ex-Schüler des in Ungnade gefallenen Germanisten Lew Kopelew, im Verband zuständig war für die Betreuung von Literaten aus Westberlin – vielleicht war deshalb die Malerin und Autorin Sarah Haffner, Tochter des prominenten Publizisten Sebastian Haffner, mit von der Partie.
Aus Sicht des Kremls gab es ja in jenen Jahren nicht nur zwei, sondern drei deutsche Staaten: Neben der BRD und der DDR, russisch „naschi“, die „Unsrigen“ genannt, die selbständige Einheit Westberlin, wo linke Studenten, zu denen ich gehörte, den Aufstand probten und für die Anerkennung der politischen Realitäten, sprich der DDR, eintraten. Unser Besuch diente dem Abbau von Vorurteilen, bewerkstelligt durch Kognak, Kaviar und Wodka, dem Sarah Haffner nur mäßig zusprach, und dem Kennenlernen der Westberliner Literaturszene, für die der KGB-Mann sich angeblich interessierte.
Lied von Lüge, Liebe, Krieg und Verrat
Doch die Gastgeber hatten die Rechnung ohne ihre Gäste gemacht: Sarah Haffner wollte wissen, ob es im Organ des Autorenverbands auch eine Rubrik gebe, wo junge Talente die alten Meister kritisierten – von Kritik war sonst immer nur in umgekehrter Richtung die Rede. Und sie bestand darauf, statt der sonst üblichen Parteiliteraten auch unangepasste Autoren zu treffen. Dem Wunsch wurde tatsächlich stattgegeben, und so besuchten wir den Sänger und Dichter Bulat Okudschawa in seiner Wohnung am Arbat, im Moskauer Künstlerviertel. Eine neue Welt tat sich auf: Statt des in Amtsstuben obligatorischen Breschnew-Bildes hing ein signiertes Foto von J. F. Kennedy über Okudschawas Schreibtisch. Seine Frau kochte Tee im Samowar, während der Dichter die Gitarre stimmte und das Lied vom Papier-Soldaten summte, das ihn bekannt gemacht hatte, im Ostblock damals so populär wie Joan Baez’ Evergreen „Sag mir, wo die Blumen sind“.
Er erzählte, dass Gitarrespielen unter Stalin als zigeunerhaft galt und dass seine Gedichte als Gitarrenlyrik abqualifiziert wurden, bis er in der Tauwetter-Ära zusammen mit Jewgeni Jewtuschenko als Neuerer der russischen Poesie entdeckt und gewürdigt wurde. Doch die Anfeindungen hörten auch danach keineswegs auf: Erst vor Kurzem habe die Zeitschrift „Literaturnaja Gazeta“ die Frage erörtert, wieso er einen Roman über die Narodniki, die als „Volkstümler“ oder „Volksfreunde“ bezeichneten russischen Sozialrevolutionäre des 19. Jahrhunderts, geschrieben habe, obwohl er doch kein Russe, sondern Georgier sei: „Der nationale Chauvinismus, sprich Rassismus, gehört zum toxischen Erbe der Stalinzeit!“
Das ging mir durch den Kopf beim Wiederlesen des hier abgedruckten Gedichts, das der Liedermacher Wolf Biermann so kongenial übersetzt hat. Für mich gehört es zu den besten und schönsten Texten Okudschawas. Der Originaltitel lautet „Lied über mein Leben“, und zu diesem Leben gehört, dass Bulats Vater 1937 als „Trotzkist“ erschossen wurde und die Mutter achtzehn Jahre in Lagern verbringen musste, während ihr Sohn freiwillig an die Front ging und als Einziger seiner Einheit den Krieg überlebte.
Dass Okudschawas Text auch Nachgeborenen unter die Haut geht und mir noch immer kalte Schauer über den Rücken jagt, liegt an der Tollkühnheit, mit der das Gedicht Liebe, Krieg und Verrat miteinander kurzschließt – ganz egal, ob es um Liebesverrat, Verrat der Freunde oder der eigenen Ideale geht: Drei Seiten derselben Sache, des Lebens, wie es Tolstoi in „Krieg und Frieden“ oder Boris Pasternak in „Doktor Schiwago“ schildert. Das ist doppelt erstaunlich, weil Okudschawa, anders als der Brecht-Schüler Wolf Biermann, kein Revoluzzer war, sondern eher den französischen Chansonniers jener Jahre nahestand mit ihrer spezifischen Mischung aus Melancholie und Sentimentalität.
So besehen hat Biermann, der Betrug mit Verrat übersetzt, den Text zur Kenntlichkeit entstellt – ein Tabubruch, wie ihn die sowjetische Zensur nie erlaubt hätte. Und es zeigt sich einmal mehr, dass und wie die Übersetzung von Lyrik der Quadratur des Kreises gleicht oder dem Wettlauf Achills mit der Schildkröte. Wolf Biermann weiß, was ich meine, denn er hat, obwohl er kein Russisch spricht, das Stück „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz und Shakespeares Sonette übersetzt.
Bulat Okudzhava: “Oh, first love”
Ach, die erste Liebe
macht das Herz mächtig schwach
Und die zweite Liebe
weint der ersten nur nach
Doch die dritte Liebe
schnell den Koffer gepackt
schnell den Mantel gesackt
und das Herz splitternackt
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Ach, der erste Krieg
da ist keiner schuld
Und beim zweiten Krieg
da hat einer Schuld
Doch der dritte Krieg
ist schon meine Schuld
ist ja meine Schuld
meine Mordsgeduld
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Ach, der erste Verrat
kann aus Schwäche geschehn
Und der zweite Verrat
will schon Orden sehn
Doch beim dritten Verrat
musst du morden gehn
selber morden gehn
– und das ist geschehn
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Ach die erste Liebe
macht das Herz mächtig schwach . . .
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Aus dem Russischen von Wolf Biermann.