Amina ist erst 24 Jahre jung und doch älter als die Mehrheit im Gazastreifen. Eigentlich heißt sie anders, aber wir nennen sie zu ihrer eigenen Sicherheit Amina. Vor dem Krieg lebte und arbeitete sie in Gaza-Stadt. Kurz bevor die israelische Armee die Bodenoffensive startete, floh sie in ihr Elternhaus nach Rafah an der Grenze zu Ägypten. Ihre Sprachnachrichten über Whatsapp kommen bei Sonnenaufgang. Ihre Stimme ist zittrig, im Hintergrund kräht ein Hahn.
„Wir sind am Leben“, hatte sie Tage zuvor geschrieben, dann brach der Kontakt ab. Das Handynetz sei schwach gewesen, sie entschuldigt sich, dass sie erst jetzt antwortet. In Normalzeiten arbeitet die junge Palästinenserin als Programmkoordinatorin für eine amerikanische Nichtregierungsorganisation. Sie war dafür zuständig, Fachleute aus dem Ausland für Workshops nach Gaza zu holen. Jetzt versuchen die Tausenden verbliebenen Ausländer und Palästinenser mit einer zweiten Staatsangehörigkeit, den Gazastreifen so schnell wie möglich zu verlassen.
„Es ist pures Glück, dass ich ursprünglich aus dem Süden komme“, sagt Amina. Dort ist sie aufgewachsen, dort wohnt ihre Familie. „Das ist witzig“, sagt sie an einer Stelle, als wäre ihr zum Lachen zumute, „wir als Familie versuchen herauszufinden: Welcher Raum ist der sicherste?“ Ein Haus in der Nachbarschaft sei zerstört worden. „Meine Mutter will, dass wir in dem Zimmer schlafen, das am weitesten von der Straße entfernt liegt. Wenn etwas passiert, passiert es allen“, sagt sie. Dann könnte niemand, der überlebt, um die Toten trauern. In den Raum passen alle zehn Personen hinein, die der Haushalt aktuell zähle. Ein Cousin und eine Tante seien temporär in ihr Haus eingezogen. „Auch wenn es nicht das sicherste ist.“
„Es ist wirklich schwer, etwas Essbares zu finden“
Seit Kriegsbeginn sind laut Angaben der Vereinten Nationen 1,4 Millionen Menschen von rund 2,2 Millionen Einwohnern, die der Gazastreifen zählt, vertrieben worden. Die Menschen im Norden waren von der israelischen Armee aufgefordert worden, nach Süden umzuziehen. Das ohnehin sehr dicht besiedelte Gebiet am Mittelmeer wird für die Zivilbevölkerung damit noch schmaler. Amina ist privilegierter als viele andere in dem Küstenstreifen. Sie lebt nicht in einem der acht Flüchtlingslager und muss nicht in einer Schule des UN-Flüchtlingshilfswerks behelfsmäßig unterkommen.
An Essen und sauberes Wasser kommt Amina jedoch auch nicht so einfach. Die Vorräte sind aufgebraucht. Die Trinkwasserversorgung ist zusammengebrochen. „Es ist wirklich schwer, etwas Essbares zu finden“, sagt sie. Jeder in der Familie bekomme eine Aufgabe zugeteilt: Einer ihrer Brüder stelle sich in die „sehr lange“ Schlange an der Bäckerei. Ein anderer sucht nach sauberem Wasser. Wieder ein anderer geht zum Supermarkt. „Bislang hat sich das Warten meistens nicht gelohnt.“ Die Situation mache mürbe.
Von außen wird der Gazastreifen mit humanitärer Hilfe versorgt. Die Vereinten Nationen und die Weltgesundheitsorganisation fordern, dass mehr Lieferungen den Küstenstreifen erreichen. Die größte Angst hat Amina davor, lebendig verschüttet zu werden. Nirgendwo sei es sicher, sagt sie in ihr Telefon. Bisher nahm sie an, dass Krankenhäuser und Kirchen sicher seien. „Jeder dachte das. Das sind sie aber nicht.“ Der islamistischen Terrorgruppe Hamas wird seit Längerem vorgeworfen, ihre Einrichtungen bewusst in der Nähe ziviler Gebäude zu errichten.
Ein Freund muss einen Kredit für ein zerstörtes Haus abbezahlen
Das Ausmaß der Zerstörungen durch die Bombardierungen der israelischen Luftwaffe ist schon jetzt enorm. Im von der Hamas kontrollierten Gazastreifen hat es seit dem Beginn der israelischen Angriffe vor vier Wochen laut lokalen Angaben mehr als 9000 Todesopfer gegeben. Das sind mehr als doppelt so viele wie in allen vier vorherigen Gazakriegen zusammen. Hunderte Menschen liegen noch unter den Trümmern begraben. Vierzig Prozent der Opfer seien Kinder, teilte die Hilfsorganisation Save the Children kürzlich mit. Der Sprecher der israelischen Verteidigungsstreitkräfte, Daniel Hagari, machte die Tunnel der Hamas für das enorme Ausmaß der Schäden verantwortlich. „Aufgrund der umfangreichen unterirdischen Infrastruktur“ sei es „zu Zerstörungen in anderen Gebäuden“ gekommen.
Über den 7. Oktober spricht Amina nicht, auch die Hamas erwähnt sie mit keiner Silbe. Sie nennt die Angriffe der israelischen Armee „Genozid“, ansonsten ist sie unpolitisch und beschreibt ihren Modus des Überlebens.
Die Hoffnung, die Amina vor dem Tag hatte, an dem die Hamas Israel überfiel und ein Massaker anrichtete, ist verloren. Wenn sie Bilder von früher sieht, werde sie traurig. Sie ging nach der Arbeit ins Fitnessstudio, traf sich mit Freundinnen im Café. „Wir hatten wunderschöne Cafés in der Altstadt von Gaza“, sagt sie in geschliffenem Englisch mit amerikanischem Akzent. Die Menschen im Gazastreifen hätten trotz mehrerer Kriege in den vergangenen Jahren gelernt, „mit Herausforderungen umzugehen“. Auch Amina hatte sich mit den widrigen Umständen arrangiert – mithilfe der Arbeit, ihrer Familie und Freunden.
Für Amina sei es „herzzerreißend“, dass sie einem Freund nicht helfen könne, der sein Haus verloren habe, auf das er noch Jahre einen Kredit laufen habe. Dass sie ihre starken Brüder weinen sieht. Amina wirkt wie eine gebrochene Frau am anderen Ende der Leitung. Ihre Stimme wird im Laufe des Gesprächs immer schwächer und zittriger. Keines ihrer Familienmitglieder wurde in dem jüngsten Krieg getötet – „thanks God“, sagt sie. Doch für die Familie spitzt sich die humanitäre Lage mit jedem Tag weiter zu. Ein Bruder ist auf Medikamente angewiesen, die Mangelware sind im Gazastreifen. Sein Vorrat neigt sich dem Ende zu. Danach wisse er nicht, was er machen soll.