Über die Grünen ist in ihrer vierzigjährigen Geschichte oft geschrieben worden, sie seien erwachsen geworden. Vor mehr als einem Jahrzehnt hatten sie wahrscheinlich die größte Chance dazu: Die beiden Tanker des deutschen Parteiensystems, SPD und CDU, waren träge geworden. Die SPD war zerschlissen durch die Schröder-Jahre, die CDU regierte mit wenig Fortune mit der FDP. 2011 errangen die Grünen wahrscheinlich den größten Sieg in ihrer Geschichte: Mit Winfried Kretschmann stellten sie erstmals in einem einstmals konservativen Industrieland den Ministerpräsidenten. Wahrscheinlich war das ein wichtigerer Schritt, als dass Joschka Fischer 1998 Außenminister wurde.
Sie besaßen das intellektuelle Handwerkszeug
Ein Betriebsunfall, wie die CDU behauptete, war Kretschmanns Sieg nicht. Das intellektuelle Handwerkszeug und das strategische Instrumentarium, um zu einer ökoliberalen Fortschrittspartei der Mitte zu werden, besaßen die Grünen damals: den ländlichen Raum erobern, die wirtschaftlichen Eliten ernst nehmen, vom Pragmatismus der CDU lernen.
Es kam anders. Blickt man zurück, ist offenkundig, dass zwar einiges gelang: die Grünen versammeln heute Teile des Bildungsbürgertums hinter sich, sie werden in der Wirtschaft gehört. Aber der Plan der Volksparteiwerdung wurde nicht Wirklichkeit. Sie konnten das stark am materiellen Status quo orientierte Wirtschaftsbürgertum nicht dauerhaft von der ökologischen Transformation überzeugen. Man sieht es jetzt in der Krise, in der die Themen Klimaschutz und Umwelt sofort aus dem Schaufenster genommen werden. Das wiederum spricht eigentlich dafür, dass eine linksökologische Partei der Mitte eine Rolle in diesem Land spielen könnte, gerade auch wegen der Schwäche der SPD. Das Potential dürfte bei 25 Prozent liegen.
Selbst verschuldete Versäumnisse
Weshalb sind die Grünen selbst unter Kretschmann nicht die „Baden-Württemberg-Partei“ geworden, die sie gern sein wollten? Ein Grund für ihre Krise ist das Dilettieren der Ampel, von dem sich Kretschmann nicht auf Dauer durch eigene Stärke absetzen konnte. Der Aufbau einer Mittepartei lässt sich schwer planen, viel hängt von Themenkonjunkturen ab und davon, ob die richtigen Leute zur richtigen Zeit in eine Partei kommen. In Baden-Württemberg übertrafen die Grünen zwar die Dreißigprozentmarke, aber das beruhte auch auf der extremen Personalisierung heutiger Landtagswahlkämpfe und der Fixierung auf den „Landesvater Kretschmann“. Selbst verschuldete Versäumnisse kommen hinzu: Um eine professionelle Nachwuchsrekrutierung kümmerte sich die Partei zu wenig. Es fehlt ihr an Pragmatikern. Deshalb gibt es bis heute weder einen grünen Landrat noch eine vorzeigbare Zahl direkt gewählter Oberbürgermeister.
Ökologie und Bürgerbeteiligung waren lange Zeit eine Domäne der Grünen, die Klimaschutzbewegung und eine mediale Überbewertung verhalfen der Partei zu einem ungeahnten Höhenflug bis zum Erfolg von fast 15 Prozent bei der Bundestagswahl 2021. Von der Stärke einer klassischen Volkspartei war aber auch das noch weit entfernt. „Wir bleiben auf dem Teppich, auch wenn der Teppich fliegt“, sagt Kretschmann gern, wohl auch, weil er nie unterschätzte, wie gespalten seine Partei ist.
Die Grünen sind eigentlich zwei Parteien: eine klassisch-linke und eine bürgerlich-linksliberale. Beide Flügel unterscheiden sich in Inhalten, Habitus und Politikverständnis fundamental. Gesinnungsethik konkurriert mit Verantwortungsethik. In der Migrationspolitik führt das zu Blockaden. Zwischen beiden Flügeln ständig Kompromisse auszuhandeln steht einem realistischen Regierungshandeln im Weg und schwächt alle Akteure.
In einer von Verlustängsten geprägten Gesellschaft werden die Grünen derzeit für alles verantwortlich gemacht, was nicht funktioniert. Das entspricht weder ihrem politischen Einfluss noch der Realität. Um diese Stigmatisierung zu überwinden, müssten sie glaubhaft eine ökologische Fortschrittserzählung auf Grundlage von Innovationen entwickeln. Das ginge nur mit einer Sprache und der Vernunft der gesellschaftlichen Mitte. Ob Robert Habeck das trotz der Wirtschaftskrise und vieler Fehler beim Regieren gelingt, bleibt eine Wette auf die Zukunft. Winfried Kretschmann hatte vor seinen drei Wahlsiegen nie so viele Wackersteine im Rucksack.