An Beteuerungen von europäischen Politikern, jetzt schnell eine Kapitalmarktunion in der EU vorantreiben zu wollen, mangelt es seit Jahren nicht. Auch auf dem Eurogipfel am Freitag in Brüssel steht das Thema ganz oben auf der Tagesordnung. Eine Aussicht auf konkrete Ergebnisse aber gibt es nicht. Zu erwarten ist, dass die Staats- und Regierungschefs den Fahrplan billigen, den die Eurogruppe beschlossen hat und der recht konkrete Arbeitsaufträge an die neue EU-Kommission enthält, die diese bis 2029 abarbeiten soll. Nach schnellen Fortschritten klingt das nicht.
Vor allem Frankreich macht aber weiter politischen Druck, und es hat den Anschein, dass die bisher zögerliche Bundesregierung sich anschließt. Fiskalpolitische und finanzwirtschaftliche Interessen gehen in Paris Hand in Hand. Integrierte europäische Kapitalmärkte sollen mehr private Einlagen für die kostspielige „grüne“ und digitale Transformation, die Rüstungsindustrie und die Finanzierung von – jungen – Unternehmen mobilisieren und so den strapazierten französischen Staatshaushalt entlasten.
Zugleich erwarten die im EU-Vergleich überdurchschnittlich großen französischen Banken neue Geschäftschancen, wenn der grenzüberschreitende Kapitalverkehr vereinfacht und besonders Verbriefungen liberalisiert werden. Forderungen ließen sich dann leichter bündeln, in handelbare Wertpapiere umwandeln und am Kapitalmarkt platzieren. Die Banken müssten weniger Kapital zur Abdeckung möglicher Ausfälle als bei klassischen Krediten vorhalten und hätten mehr Geld für neues Geschäft.
Zwei konkrete Schritte zur Kapitalmarktunion
Europäische Bankenvertreter beklagen oft, dass die Wirtschaft in Europa zu etwa 80 Prozent von den Banken und nur zu 20 Prozent über die Finanzmärkte finanziert werde. In den Vereinigten Staaten sei es genau umgekehrt.
„Ohne Kapitalmarktunion werden wir erleben, dass unsere Start-ups in Berlin geboren werden, in Paris entstehen und in Washington, New York oder San Francisco wachsen“, sagte Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire diese Woche in Berlin. Nach seiner Meinung lassen sich zwei konkrete Schritte zur Kapitalmarktunion relativ schnell auf den Weg bringen. Frankreich fordert weiter ein „gemeinsames europäisches Sparprodukt“ und eine harmonisierte Kapitalmarktaufsicht durch die EU-Börsenaufsicht ESMA in Paris. Bisherige Meinungsverschiedenheiten mit Berlin ließen sich mit „politischem Willen“ überwinden, sagte Le Maire.
Ebenfalls in dieser Woche kündigte Staatspräsident Emmanuel Macron an, dass er in den kommenden Wochen gemeinsam mit Deutschland „mutige Vorschläge“ machen werde. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) scheint ihn unterstützen zu wollen. Auch Deutschland werde in der Frage noch über das eine oder andere Stöckchen springen müssen, sagte Scholz am Dienstag. Das könnte darauf deuten, dass die Bundesregierung grundsätzlich bereit ist, über besonders schwierige Rechtsfragen zu reden, etwa eine Harmonisierung des nationalen Insolvenz-, Vertrags- und Börsenrechts.
Streit um Verbriefungen
Gerade diese Rechtsfragen legen unverändert Zweifel an schnellen Fortschritten nahe, unabhängig von politischen Willenserklärungen. Das lässt sich aus einer Studie des Jacques Delors Centre in Berlin ableiten. Der Autor Sebastian Mack hält den Vergleich mit den amerikanischen Kapitalmärkten für unsinnig. Eine Vertiefung der Kapitalmärkte in der EU sei so lange unmöglich, solange es dort anders als in den Vereinigten Staaten 27 nationale Rechtssysteme gebe, die sich nicht miteinander vereinbaren ließen.
Besonders groß blieben die Hindernisse für eine rasche Belebung und Vereinheitlichung des europäischen Marktes für Verbriefungen, heißt es in der Studie. Bankenvertreter wollen diese durch schwächere Regulierungen erreichen. Sie weisen darauf hin, dass sich dieses in der Finanzkrise 2007/2008 in Misskredit geratene Finanzinstrument in den USA viel schneller erholt habe als in Europa.
Mack hält den Vergleich mit den USA auch in diesem Fall nicht für stichhaltig. Die halbstaatlichen Immobilienfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac, deren Geschäft mit Verbriefungen als einer der Hauptauslöser der Finanzkrise 2007/2008 gilt und die mit einem dreistelligen Milliardenbetrag vom Staat gerettet wurden, profitierten immer noch von einer Staatsgarantie. Allein Fannie Mae habe Papiere von 4,3 Billionen Dollar in den Büchern stehen, für die der Staat geradestehen müsse, heißt es in der Studie. „Eine derart generöse Staatshilfe existiert in Europa nicht.“
Ein faktisches und zugleich politisches Hindernis für einen integrierten europäischen Verbriefungsmarkt besteht ferner darin, dass das Verbriefungsgeschäft sich auf fünf Staaten konzentriert. Frankreich und Deutschland führen mit 25 und 21 Prozent, es folgen Italien (17 Prozent), Spanien (13 Prozent) und die Niederlande mit 10 Prozent. Zehn Bankengruppen in diesen fünf Ländern teilten sich zwei Drittel des gesamten Geschäfts mit hypothekenbesicherten Verbriefungen. Wegen dieser starken Konzentration werde die beabsichtigte Risikostreuung nicht erreicht. Auch eine wirkliche Kapitalmarktintegration sei unwahrscheinlich.
Grenzüberschreitende Verbriefungen seien erst langfristig möglich, wenn die Mitgliedstaaten bereit seien, das nationale Recht, vor allem das Vertrags- und Insolvenzrecht zu harmonisieren. Daran habe bisher kein Staat wirklich Interesse gezeigt; eine erste Initiative der EU-Kommission von 2010 sei stecken geblieben. Fürs Insolvenzrecht seien wenigstens gemeinsame Minimalstandards notwendig. Als erste Schritte empfiehlt Mack die Abschaffung unnötiger Berichtspflichten. Das sei die Voraussetzung für ein mittelfristig realistisches europäisches Verbriefungsprodukt.