Vor ein paar Tagen in der Deutschen Oper Berlin, bei der Premiere des William-Forsythe-Ballettabends, winkte Nele Hertling auf die Frage nach eventuellen Geburtstagsfestlichkeiten lächelnd ab. Ihr sechzigster, siebzigster und achtzigster Geburtstag seien so groß gefeiert worden, dass sie nun darauf bestehe, ihren neunzigsten im berühmten „kleinen Kreis“ zu begehen. Das wird nicht ganz klappen. Denn am heutigen 23. Februar wird pünktlich zu ihrem Geburtstag bekannt gegeben, dass sie den mit 20.000 Euro dotierten Theaterpreis 2024 der Stiftung Preußische Seehandlung erhält. Für ihr Lebenswerk, „insbesondere für ihre Leistungen als Dramaturgin, Kuratorin, Intendantin und für die Gründung mehrerer Förderfonds und Netzwerke“ wird sie geehrt, so lässt Kai Wegner, der Regierende Bürgermeister von Berlin und Stiftungsratsvorsitzende, mitteilen.
Das sind wahre Worte, wenn sie auch nicht im Mindesten widerspiegeln, welches arbeitsreiche Leben an der Akademie der Künste und am Hebbel-Theater das für Nele Hertling bedeutet hat und noch bedeutet. Aber auch da würde sie abwinken. Die Mutter von zwei Töchtern hat nie ein Zeichen von Erschöpfung gezeigt. Wollen Politiker oder Beamte nicht verstehen, was der Tanz braucht, zuckt sie nur mit den Achseln und versucht bei nächster Gelegenheit erneut, es ihnen zu erklären. Das kann sie perfekt, genauso wie sie in Interviews nie mit der Stimme runtergeht, obwohl ihr Satz eigentlich mal mit einem Punkt enden müsste – aber sie ist ja noch nicht fertig mit dem, was sie mit ihrer schönen Stimme unbedingt noch sagen muss. Sie hat sowieso recht, und den Rest macht ihr Charme: immer gelassen, klug und freundlich. Sie ist eine charismatische Pionierin des Theaters, ein Role Model, eine Ikone.
Sie hat uns allen die Augen geöffnet
Vorbildlich an ihr ist die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Kunst. Sie ist immer an der Seite der Künstler gewesen, deren Arbeiten sie liebt. Jeden Abend saß sie als Direktorin des Hebbel-Theaters in den Vorstellungen. Das war die Innensicht, die man bekommen konnte, wenn man sie in ihrem Haus erlebte. Der privateste Satz, den man bis heute von ihr hörte, hieß, sie habe in ihrem alljährlichen Sommerurlaub in Südfrankreich praktisch nur geschlafen. Unablässig verteidigte sie Budgets und kämpfte für den Rang des Tanzes in der Welt der Künste im Allgemeinen und für das von ihr gegründete Festival Tanz im August im Besonderen.
Als sich etwa 2001 zeigte, dass das Projekt Berlin Ballett mit der Zusammenlegung aller drei Opernballette der Stadt künstlerisch von einer Fehlentscheidung in die nächste getaumelt war und nun eingestellt wurde, sprach Hertling harte Worte: Finanziell und künstlerisch stehe der Tanz in Berlin jetzt schlechter da als zu Beginn der Debatte zehn Jahre zuvor. Auf der politischen Ebene, so resümierte sie ihre vierzigjährige Arbeit damals, interessiere Tanz niemanden. Das hat sie geändert. Von 1963 an reiste sie um die Welt und brachte die internationale Kunst zurück nach Berlin. Sie holte zuerst Merce Cunningham nach Deutschland, Laurie Anderson und Trisha Brown, Lucinda Childs und Michael Clark.
Es gab am deutschen Theater vor ihr nur Ensembles und außerhalb weniger Festivals keine internationalen Gastspiele. Sie begann, mit der Welt des freien Theaters zu koproduzieren, und half, das freie Theater in Deutschland entstehen zu lassen. Nach der Wende sorgte sie dafür, dass der Tanz der DDR wahrgenommen wurde. Die Tanzwelt hat ihr in all ihren Funktionen und Rollen unendlich viel zu verdanken. Sie hat uns allen die Augen geöffnet: Danke, liebe Nele Hertling.