Choreograph und Choreographin sind natürlich vollkommen frei, tanzen zu lassen, wie sie wollen. Was sich so selbstverständlich hinschreibt, ist es gerade im zeitgenössischen Ballett nicht mehr. Und das Jahrzehnte nachdem George Balanchine und Merce Cunningham die Bewegungserfindung vom Geschichtenerzählen befreiten und William Forsythe anschließend seine Ballerinen wie windschiefe rebellische Galionsfiguren des Feminismus auf die Bühne schickte.
Im Assoziativen baden
Heute scheint die Wirkung der Freiheit verschwunden. William Forsythes auf Spitzenschuhen schliddernde Wilde sind Geschichte, ein längst als nurmehr elegant empfundenes Zitat. Das Tanztheater dient als Stilmittelkiste, aus der sich auch die klassisch geprägten Compagnien unvermittelte Szenenwechsel, unidentifizierbare Figuren, musikalisch beliebige Toncollagen, Texteinspielungen, expressionistisches Mimen und was nicht noch alles hervorholen. Wer die Szenenfolge im Programmheft nicht liest, geht im Assoziativen baden. So macht es David Dawson, so macht es Wayne McGregor, so macht es Christopher Wheeldon, so wird es einfach international gemacht, und nun wissen auch die Berliner, dass Christian Spuck es ebenso macht, ihr neuer, aus Zürich abgeworbener Ballettdirektor.
Mit „Bovary“ nach Gustave Flauberts nicht ganz gleichnamigem Roman choreographierte er seine erste Uraufführung als Berliner Chef: ein Handlungsballett, wie es konventioneller nicht aussehen könnte. „Bovary“ ist gar nicht schlimm anzuschauen, keine Katastrophe, gar nicht wirklich kitschig und oft auch gar nicht auf den ersten Blick langweilig. Es ist auch nicht zu rosa. Es ist bloß komplett anachronistisch und choreographisches Mittelmaßkunsthandwerk, erwartbar, überraschungslos, repetitiv und unoriginell. Am altbackensten wirken die Ensembleszenen. Kam nicht Christian Spuck aus Stuttgart, wo John Cranko wie ein Tornado durch die Nachkriegskonventionen des Handlungsballetts getobt war und jedem einzelnen Mitglied des Corps de Ballet die Freiheit geschenkt hatte zur individuellen Darstellung? Tanze phantastisch und zeige deine fünfte Position, aber sei du selbst dabei?
In Spucks Gruppenszenen tanzen albern gekleidete Soldaten mit ammenähnlichen Frauen am Arm sechzigerjahremäßig herum: die Ironiefreiheit der Gesellschaft. Die in diesem langweiligen Setting – düsteres Tor öffnet sich, düsteres Tor schließt sich – überraschend anrührend wirkende Tänzerin der Titelfigur, Weronika Frodyma, weckt mit ihren Partnern Alexandre Cagnat, David Soares und Alexei Orlenco immer wieder das ständig erlahmende Interesse der Zuschauer. Weil sie an das zu glauben scheinen, was sie da tun. Aber wieso man sich für Emma Bovary interessieren sollte, die sich an die Ehe mit einem Landarzt nicht gewöhnen kann, sich über einen toxischen Liebhaber grämt, aus Luxusverliebtheit Schulden macht und dann Selbstmord begeht? Christian Spuck hat dafür keine Antwort. Sein Berliner Einstandsabend ist ein unfreiwilliger Eintrag für den neuen Tiktok-Trend #gehtmichnichtsan.