Herrliche Aussicht! Man könnte sie stundenlang betrachten. Die Spaziergänger auf Édouard Manets Gemälde „Ansicht der Weltausstellung von 1867“ sind nur für einen Moment stehen geblieben, aber es treibt sie nichts zum Weitergehen. Es gibt für sie keine dringenden Geschäfte, alle ehrenvollen Aufgaben können warten. Der Maler gibt hier kein Gesellschaftspanorama der Berufsstände, deren Wege sich in der Hauptstadt kreuzen. Die Figuren sind auch zu klein und zu skizzenhaft, als dass man an ihrer Tracht die Attribute von Professionen oder auch von Lebensaltern erkennen könnte. An der Wiedergabe feiner Unterschiede ist Manet nicht interessiert.
Unverkennbar sind nur der Gärtner ganz vorn und drei Soldaten in Uniform aus blauer Jacke und roter Hose. Das angeschnittene begrünte Rondell, das der Mann mit dem gelben Strohhut als wandelnde Fontäne kultiviert, drängt das Ausstellungsgelände buchstäblich in den Hintergrund, obwohl hier nichts Spektakuläres heranwächst. Einer der Soldaten hat sich auf den Rasen gesetzt, die anderen stehen locker daneben. Sie schieben nicht Wache und halten keine Stellung, ihre Anwesenheit auf dieser Anhöhe ist kein Vorbote eines Belagerungszustands. Zwei Herren mit Hüten stecken die Köpfe zusammen. Sie kehren dem Betrachter den Rücken zu, blicken hinunter auf die Stadt in der Stadt, haben als ambulante Architekturkritiker vielleicht gerade ein pittoreskes Detail entdeckt oder freuen sich mit gedämpfter Stimme an einem Witz, den die Kinder nicht hören sollen. Eine schwarz eingehüllte Dame zeigt ihrer im Kontrast in Orange und Weiß gekleideten Begleiterin etwas mit ihrem zusammengefalteten Schirm. Das Objekt des Verweises ist nicht auszumachen.
Manets Pop-up-Space am rechten Seineufer
Die eigentliche Ansicht auf dieser Ansicht, das urbane Weltwunderland, das nach den Plänen von Kaiser Napoleon III. die Erinnerung an die Londoner Weltausstellung von 1851 verblassen lassen sollte, bleibt diffus, fast als wäre vor der Aussichtsplattform der zerstreuten Zuschauer eine Milchglasscheibe eingezogen worden. Was genau in der Ausstellung zu sehen ist, darf demjenigen, dem das Gemälde gefällt, gleichgültig sein. Denn Bilder wie dieses gab es dort nicht: Manets Einreichungen zum Salon, der 1867 unter dem Dach der Weltausstellung stattfand, waren von der Jury zurückgewiesen worden. Manet antwortete auf die Aussperrung mit einer Gegenausstellung. Er ließ sich seine eigene Ausstellungshalle bauen, die Platz für stolze fünfzig Gemälde aus seiner Produktion bot. Die Pop-up-Galerie lag am rechten Seineufer; wenn man ein paar Meter weiterging, öffnete sich der Ausblick auf das Marsfeld mit den Pavillons der offiziellen Weltausstellung.
Das Wallraf-Richartz-Museum in Köln, das 1912 Auguste Renoirs berühmtes „Paar im Grünen“ erwarb und seinen französischen Gemäldebestand 2001 durch die Übernahme der Sammlung des Schweizers Gérard Corboud enorm verbreitern konnte, begeht den hundertfünfzigsten Jahrestag der ersten Impressionistenausstellung mit einer Ausstellung über die Emanzipation der Malergruppe, die in Kritiken der ersten Gemeinschaftsausstellung den Namen der Impressionisten erhielt, vom Salon, der Jahresschau des staatlich-akademischen Kunstkomplexes. Die Sonderausstellung fällt zusammen mit dem Baubeginn des Anbaus für die Sammlung Corboud, den der Stadtrat schon 2012 beschlossen hatte.
Manets 1,08 Meter hohe und 1,96 Meter breite „Vue de l’Exposition universelle de 1867“, eine Leihgabe aus dem Nationalmuseum in Oslo, illustriert das Thema der Ausstellung perfekt, in seinen beiden Aspekten, dem institutionellen und dem stilistischen. Der ausgeschlossene Maler reproduzierte das Regelwerk des Salons vor dessen Mauern nicht. Sein Personal bildet keine formierte Gesellschaft wie im Historienbild oder auch im Genrebild, der niederen, aber ebenfalls auf die Ästhetik hierarchischer Repräsentation verpflichteten Gattung. In Köln kann man Albert Ankers Ereignisbild „Die Kappeler Milchsuppe“ (ausgestellt im Salon von 1870) und Victor Julien Girauds Szene aus dem Leben der Boheme „Ein Essen im Atelier“ (Salon von 1864) zum Vergleich heranziehen. Die Botschaft ist in beiden Fällen egalitär: Schweizer und Künstler werden als originelle Völkchen dargestellt, bei denen Nahrung und andere Liebesgaben brüderlich geteilt werden. Aber alle Personen sind dem Ganzen ein- und untergeordnet; was ihre mehr (Künstler) oder weniger (Schweizer) exaltierten Gesten zu verstehen geben, erschließt sich vom Zentrum her.
Manets Großstädter sind dagegen samt und sonders Einzelgänger, auch wo sie Grüppchen bilden. Sie wirken montiert, eher aufgeklebt wie Staffagefiguren im Entwurf eines Bühnenbildners als vom Bildraum eingefasst. Die zentrale Figur ist eine Reiterin auf einem Rappen, in schwarzem Cape mit blauem Band am schwarzen Hut. Sie scheint gerade im Begriff, ihr Pferd zu einer Richtungsänderung zu bewegen. Aber in dieser Dressurübung ohne Publikum ziehen sich nicht etwa die Fäden des Raumes zusammen. Eher markiert die unbestimmte Figur, dass alle Bewegungen unkoordiniert und die beiden Seiten des Tableaus austauschbar sind.
Der „Salon des refusés“ war eine offizielle Institution
Unterwerfung unter die Zentralperspektive garantierte nicht die Gnade des Salons. 1863 ordnete Napoleon III. an, dass für die von der Jury abgelehnten Künstler ein eigener, parallel beziehungsweise zeitversetzt stattfindender Salon eingerichtet wurde. Der „Salon des refusés“, das vermeintliche Modell aller Sezessionen, war also eine amtliche Veranstaltung: Der Kaiser beanspruchte, über den Kunstgrammatikern zu stehen, oder ließ jedenfalls gegen deren Verdikte die Berufung ans Publikum als höchste Instanz des Kunsturteils zu. Der Salon der Abgewiesenen erlaubte also Gegenproben auf die Triftigkeit der klassischen Maßstäbe der Salonjury. Der Kritiker Fernand Desnoyers beschloss seine Beschreibung von Gustave-Henri Colins „Pelota-Partie unterhalb der Stadtmauer von Fontarabie“ mit einer Denkaufgabe für die Ausstellungsbesucher: „Abgelehnt? – Warum? – Rebus der Jury.“
Das für Desnoyers „sehr bemerkenswerte“ Bild war doch „voll mit Leben, mit Bewegung und mit Sonne; so ist der Süden“. Mit anderen Worten, ins Formale übersetzt: In klassischer Landschaft hat Colin sein alltäglich-modernes Sujet des Ballspiels nach klassischen Spielregeln behandelt. Die Ausstellung löst das Rätsel des Juryurteils über Colin nicht auf, der 1857 im Salon debütierte und bis 1879 dort immer wieder vertreten war. Er nahm 1874 mit fünf Bildern an der Ausstellung der Société anonyme des artistes peintres, sculpteurs et graveurs etc. teil, aber die Kuratorin Barbara Schaefer ordnet ihn nicht den Vertretern, sondern den Vorläufern des Impressionismus zu, als Verbindungsmann zur Schule der Landschaftsmaler von Barbizon.
In Köln hängt man die später kanonisierten Impressionisten und die damals im Salon noch tonangebenden Maler nebeneinander, ergänzt um Künstler, die sich keiner der beiden Seiten leicht zuschlagen lassen, um die willkürlichen und zufälligen Momente der Jurybeurteilungen zu akzentuieren. Dabei soll nicht das Jurysystem als Organisation von Patronage der Kritik verfallen, vielmehr geht es darum, wie sich vor dem Horizont fixierter Erwartungen, die aber auch nicht einfach von den Akademien tradiert, sondern von der Kunstkritik debattiert wurden, Neues bemerkbar machen konnte, in Absetzung von der Institution, aber auch im Wettbewerb mit den Insidern.
Der Katalog bietet gehaltvolle Beschreibungen
Alexandre Cabanels „Geburt der Venus“ und „Die Perle und die Welle“ von Paul Jacques Aimé Baudry, zwei in klassischer Manier durch fingierte Sublimierung direkt an männliche Schaulust appellierende Frauenakte aus dem Salon von 1863, stellt die Ausstellung nicht dem weltberühmten abgelehnten Skandalbild dieses Jahrgangs gegenüber, Manets „Frühstück im Grünen“, sondern Berthe Morisots 1865 angenommener „Studie am Wasser“ und Frédéric Bazilles 1868 abgelehntem „Fischer mit Wurfnetz“. Dass Morisots junge Frau bekleidet am Ufer liegt, bot dem Kritiker Gonzague Privat in seiner Programmschrift „Platz den Jungen!“ Anlass nicht zu Meditationen über die Sittlichkeit, sondern zur Betrachtung der Malweise: „Dieses Bild ist sehr lichterfüllt, der weiße Stoff, der den Körper der jungen Frau umhüllt, ist außerordentlich fein und in warmem Ton getroffen.“
Das neben Henri Fantin-Latours Ateliergruppenbild mit Manet berühmteste nach Köln ausgeliehene Bild ist der „Tote Torero“ aus Washington, den Manet 1867 in die Ausstellung seiner Welt aufnahm. Er war ursprünglich Teil eines größeren Gemäldes, der im Salon von 1864 gezeigten „Episode aus einem Stierkampf“. Manet beschnitt das Bild um das Episodische, weil er sich die drastischen Urteile der Salonkritik über die ungewöhnlichen Proportionen zu Herzen genommen hatte.
Da die Ausstellung von 1874 in diesem Jahr in anderen Museen wieder zusammengeführt wird, spart man in Köln das Urereignis aus. Die Kölner Bildauswahl hat dadurch etwas Apartes, wird zu einer geistreichen Serie von Annotationen. Erfreulicherweise bietet der Katalog, was bei Ausstellungen zumal zu populären Themen nicht mehr selbstverständlich ist, einen ausführlichen Eintrag zu jedem gezeigten Werk. Die Hälfte davon hat Peter Kropmanns beigesteuert, der aus seiner Kennerschaft nicht nur der französischen Kunst, sondern auch der Topographie und Geschichte schöpft. Er hat nachgesehen, wie es auf den von Alfred Sisley gemalten Waldwegen heute aussieht. So ist die Freiluftmalerei der Impressionisten immer noch kein akademisches Exerzitium geworden, sondern bleibt auch jetzt eine Aufforderung zum Hinsehen.
1863 · Paris · 1874: Revolution in der Kunst. Wallraf-Richartz-Museum, Köln, bis zum 28. Juli. Der Katalog kostet 32 Euro.