Die Kulisse passt nicht recht zu der Krise, die im Moment in der Autobranche herrscht. Vor dem historischen Schloss Herrenhausen, einst Residenz der Kurfürsten und Könige von Hannover, werden an diesem Mittwochmorgen die Protestbanner der IG Metall in den Himmel ragen. Auf einer Bühne vor dem klassizistischen Prachtbau im Nordwesten der niedersächsischen Landeshauptstadt will die Betriebsratschefin des Volkswagen-Konzerns, Daniela Cavallo, ihre Belegschaft auf einen harten Kampf gegen Werksschließungen und Stellenabbau einschwören. Danach ziehen sich Gewerkschaft und Management ins Obergeschoss zurück, um die Verhandlungen über ein komplexes Regelwerk einzuleiten: den neuen VW-Haustarif.
Es geht um 120.000 Beschäftigte der Volkswagen AG, ein organisatorischer Überbau des Konzerns, zu dem das Stammwerk in Wolfsburg und fünf weitere westdeutsche Fabriken gehören; Deutschlands größter Haustarifvertrag. Aus Sicht des Managements ist die Bezahlung aus dem Ruder gelaufen. „Wir müssen die Produktivität steigern. Wir müssen unsere Arbeitskosten senken“, heißt es auf einem Flugblatt der Führung, das am Dienstag an Standorten verteilt wurde. Schon lange sei klar, dass Rivalen wie der Mehrmarkenkonzern Stellantis effizienter arbeiteten, lautet eine Warnung aus dem Umfeld des Managements. Jetzt breche alles auf. Denn während die Konkurrenz mit Rabatten auf die schwache Nachfrage reagiere, fehle den Wolfsburgern Spielraum. Vor allem die Stammmarke VW laufe Gefahr, ins Minus zu rutschen, wenn sie ihre Preise stark senke.
Bis zu 150.000 Euro jährlich im „Tarif Plus“
Die Personalkosten sind nur ein Teil der milliardenschweren Effizienzprogramme, die VW angestoßen hat und über die seit Wochen immer erbitterter gestritten wird. Sie sind aber heikel und emotional aufgeladen. Denn es geht auch um Privilegien, besonders im „indirekten Bereich“, wie VW seine Verwaltung und andere Stellen jenseits der Produktion nennt. Gut die Hälfte der dort Angestellten, also mehr als 30.000 Mitarbeiter, seien in oberen Entgeltstufen und im „Tarif Plus“ einsortiert, heißt es. Ihre Vergütung beginnt bei etwa 84.000 Euro. Sie kann im „Tarif Plus“, einem Rahmen für Beschäftigte mit Spezialisten- oder Führungsfunktion, bis zu 150.000 Euro reichen, wenn ans Management gekoppelte Bonuszahlungen fließen.
VW will nun seine Kosten im indirekten Bereich um 20 Prozent senken. Der Vertrag „Tarif Plus“ wurde gekündigt, ebenso wie die Beschäftigungsgarantie, die alle Mitarbeiter der Volkswagen AG seit mehr als dreißig Jahren vor Entlassungen schützte. Die Kündigung dieser und weiterer Vereinbarungen hatte vor knapp zwei Wochen einen Aufschrei ausgelöst. Vor der ersten Verhandlungsrunde über den Haustarif an diesem Mittwoch legt die Gewerkschaft jetzt nach. VW habe die Mitbestimmungskultur „in Brand gesteckt“ und gieße „mit der Drohkulisse von Werksschließungen zusätzliches Öl ins Feuer“, sagt Thorsten Gröger, Verhandlungsführer der IG Metall.
Was ist dran am VW-Bonus?
Viele Fabriken sind nur zu zwei Dritteln oder weniger ausgelastet. VW droht erstmals in seiner Geschichte damit, mindestens einen Standort in Deutschland zu schließen. Auch hier ist die Vergütung ein Thema. Rund 56.000 Euro hat ein durchschnittlicher Mitarbeiter an der Produktionslinie zuletzt verdient, einschließlich des jährlichen Tarifbonus, einer erfolgsabhängigen Zahlung von zuletzt 4735 Euro.
Gegenüber Beschäftigten in vergleichbaren Gruppen des Flächtarifvertrags der Metall- und Elektroindustrie ist das etwa ein Zehntel mehr. Von der IG Metall heißt es, das Narrativ des üppig bezahlten VW-Arbeiters sei eine Legende, der Abstand zum Entgelt in anderen Unternehmen kleiner als allgemein gedacht. Gleichzeitig war die Gewerkschaft immer stolz darauf, wenn sie in Wolfsburg ein Plus gegenüber dem Rest des Landes herausgeholt hatte. „VW-Haustarif geht über Fläche hinaus“, lautete die Schlagzeile ihres Flugblatts, das sie vor knapp zwei Jahren zum Abschluss der damaligen Runde herausgegeben hatte.
Viele Sonderregeln
Vorgezogene Einmalzahlungen, spezifische Regeln zur Altersteilzeit, eine Wahl zwischen freien Tagen und zusätzlichem Geld, die als Reaktion auf die Krise inzwischen wieder angepasst wurde: von solchen Sonderregeln profitierten Beschäftigte in allen Unternehmensbereichen. Für junge Leute in dualen Studiengängen wurde gut gesorgt, auch für die 1400 Auszubildenden, deren Zahl nun niedriger werden soll. Die ganze Region rund um Wolfsburg profitierte über Jahrzehnte, wie die vielen Einfamilienhäuser mit Garten und Carport zeigen. Gleiches gilt für Standorte wie Emden oder Kassel in Nordhessen. Man werde um die Fabriken kämpfen und sehe den Vorstand in der Pflicht, „die nötigen Zukunftsinvestitionen zu tätigen“, sagte Hannovers Bürgermeister Belit Onay (Grüne) kürzlich nach einem Treffen mehrerer Stadtoberhäupter mit dem Management.
VW verweist auf die Kosten. 12,4 Milliarden Euro Personalaufwand weist der Jahresabschluss der Volkswagen AG für 2023 aus, knapp 14 Prozent des Umsatzes. VW hält das im Wettbewerbsvergleich für zu hoch und will gegensteuern, auch wegen der Konkurrenz aus China, die in Europa zwar noch nicht groß ist, aber wachsen will. „Fest steht: Die Wettbewerber steigen in die europäische Produktion ein – und werden diese Kosten auch in Europa noch einmal deutlich unterbieten“, heißt es in dem Flugblatt vom Dienstag. Gleichzeitig schrumpfe der Markt, auch wegen der schwachen Nachfrage nach E-Autos. In Summe fehlten VW 500.000 Autos in den Fabriken, rechnet der Konzern vor.
Vor dem ersten Treffen im Schloss Herrenhausen steht die IG Metall nun vor einem Spagat. Mancher Betriebsrat sorgt sich schon darum, dass VW mit seiner Krise den Flächentarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie belasten könnte, der ebenfalls neu verhandelt wird. Es wäre ein Novum, nachdem die Wolfsburger über Jahre eher voranmarschiert waren. In beiden Fällen fordert die IG Metall ein Lohnplus von 7 Prozent, doch für VW könnte diesmal auch weniger bis hin zu einer Nullrunde herauskommen, glauben manche. Die IG Metall hat schon mit Arbeitskampf gedroht. Der heiße Herbst in der Autobranche beginnt.