Der Titel des neuen Romans von Iris Wolff lautet „Lichtungen“. Dieses Wort fällt auf 250 Seiten nur ein einziges Mal und eher beiläufig: „In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es tauchte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das, was sich nicht verlor, gehörte einem nie ganz alleine. Die Angst gehörte einem alleine. Das Vergessen. Alles sonst, dachte Lev, bleibt nur durch andere gegenwärtig.“
An die Wirklichkeit reicht Sprache nicht heran
Dieser Absatz ist typisch – nicht nur für Iris Wolffs Sprache, die unkapriziös daherkommt und von größter Präzision ist, sondern mehr noch für ihr Interesse am Erzählen. Alle vier vorherigen Romane der 1977 im rumänischen Sibiu (Hermannstadt) geborenen Autorin, von „Halber Stein“ (2012) über „Leuchtende Schatten“ und „So tun, als ob es regnet“ bis zu „Die Unschärfe der Welt“ (2020), sind zum wesentlichen Teil angesiedelt in den Landschaften ihrer Kindheit, die mit der Übersiedelung in die Bundesrepublik 1985 endete. Doch es sind dadurch nicht einfach persönliche Siebenbürger oder Banater Geschichten. Sondern Menschheitserfahrungen, die aufscheinen im Spiegel von Wolffs Herkunft, die ständig dem Risiko des Vergessens ausgesetzt ist, von dem sie ja auch in dem anfangs zitierten Abschnitt spricht.
In den Figuren ihrer Bücher, daraus hat diese Autorin nie ein Geheimnis gemacht, sind die Erfahrungen ihrer Familie aufbewahrt, aber über- und umgeformt durch die eigenen des Schreibens, auch wenn Florentine, das poetische Gewissen des vielfach preisgekrönten Romans „Die Unschärfe der Welt“, Worten gegenüber „ein nie ganz aufzulösendes Unbehagen“ empfindet. „Die Unschärfe der Aussagen“, lesen wir dort weiter, „verunsicherte sie. Wie sehr sie sich auch bemühte: Sprechen reichte nicht an die Wirklichkeit der Erfahrung heran.“
Was heißt das für die Verfasserin? Dass Iris Wolff mit ihren Romanen gegen diese Einschätzung der eigenen Figur antritt. In „Lichtungen“ wird das ganz deutlich: Darin wird von Leonhard, genannt Lev (wie das rumänische Wort für Löwe), erzählt, dem Sohn einer rumäniendeutschen Familie, die zur einen Hälfte aus dem Banat und zur anderen aus Siebenbürgen stammt. Als einziges Kind der zweiten Ehe seines früh verstorbenen Vaters ist Lev zu Hause ein Außenseiter, zumal die Mutter nicht von der väterlichen Familie akzeptiert wird, denn der Großvater mütterlicherseits hat das Land verlassen. Zuvor jedoch hatte er gemeinsam mit seinem jungen Enkel noch einen Kuraufenthalt absolviert, während dem Lev ein traumatisches Erlebnis widerfuhr.