Kaum war Syriens Langzeitherrscher Baschar al-Assad geflohen und die Hauptstadt Damaskus an die Aufständischen gefallen, stiegen an der Börse in Istanbul die Kurse. Zement- und Stahlhersteller legten bis zu zehn Prozent zu. Historische Höchststände in einem historischen Moment. Die Hoffnungen liegen auf dem Wiederaufbau des kriegszerstörten Nachbarlandes, in dem die Türkei eine führende Rolle spielen will. Fatih Yücelik, der Chef des Verbands der Zementhersteller, sagt: „Unsere Branche kann sich effizient an die neue Situation vor Ort anpassen.“
Wenig ist so offensichtlich wie der notwendige Neubau von Häusern, Schulen, Fabriken, die Ertüchtigung von Straßen und Energieleitungen in zerbombten Städten wie Aleppo oder Idlib. Bereits vor zwei Jahren bezifferte die Weltbank die Schäden an Städten und Industrie auf 11,4 Milliarden Dollar, wovon zwei Drittel auf Zerstörungen der physischen Infrastruktur entfielen. Das ist mehr als die aktuelle Wirtschaftsleistung des Landes. Schäden des großen Erdbebens aus dem Februar 2023 kommen noch hinzu.
Syrien hat seit Ausbruch des Bürgerkrieges 2011 einen atemberaubenden Absturz erlebt: die Wirtschaft im freien Fall, Arbeitslosigkeit und Inflation schießen ungebremst in die Höhe, die Landeswährung ist dagegen immer weniger wert. Das treibt die Menschen, die geblieben sind, in immer größere Armut. An der Spitze der Arabischen Republik stand eine mörderische Führungsclique, die sich hemmungslos am Staatsvermögen bereicherte. Weil das Geld dennoch nicht reichte, mussten sich die Raffkes im Präsidentenpalast am Ende mit Drogengeschäften über Wasser halten.
Die Hyperinflation hat die Währung zerstört
Assads Regierung war ein kleptokratischer Mafiastaat mit einem Präsidenten als Drogendealer an der Spitze. Das irritiert umso mehr, als er im Jahre 2000 in einem Volksreferendum mit 97,3 Prozent der Stimmen gewählt wurde. Die Zahl mag mit Vorsicht zu genießen sein, Assad galt aber nicht nur im Ausland als „Reformer“, der den autokratischen Kurs seines verstorbenen Vaters beenden würde. Welch ein Irrtum. Wer darunter leidet, sind die vielleicht noch 24 Millionen Syrer, die das Land bisher nicht verlassen haben, um in die Türkei, nach Libanon oder nach Deutschland zu fliehen.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Syriens, eine Kennziffer für wirtschaftliches Wohlergehen, ist von 61,4 Milliarden Dollar im Jahre 2010 auf nicht einmal mehr neun Milliarden Dollar im vergangenen Jahr zusammengebrochen. Das ist ein Minus von 85 Prozent. Basis sind Schätzungen der Weltbank, denn statistische Daten liefert die bis dato sozialistische Republik Syrien seit Jahren nicht mehr. Für dieses Jahr erwarten die Weltbankexperten einen weiteren Rückgang der Wirtschaftstätigkeit. Dabei lag die einst stolze Wirtschaftsnation schon 2023 im weltweiten BIP-Vergleich nur noch auf Platz 153, hinter Togo.
Die Hyperinflation hat die Währung, das syrische Pfund, zerstört. Dass Assad Tauschgeschäfte mit Dollar verbot und Unternehmen, die elektronische Geldtransfers anboten, sperren ließ, hat auch nicht geholfen – manche von ihnen arbeiten nun nach seiner Flucht und positiven Signalen der Regierung an der Wiederöffnung. Nach der Devisenkursstatistik der Deutschen Bundesbank war ein Dollar im Jahre 2010 noch 47 syrische Pfund wert, heute verlangen die Händler 13.000 Pfund, bevor sie einen Dollar hergeben. Dabei hat der Sturz des verhassten Regimes der Währung schon etwas Auftrieb gegeben, der Dollarkurs lag zwischenzeitlich auch schon bei 15.000 Pfund.
Mehr als die Hälfte der Menschen sind arbeitslos
Als Reaktion auf eine jährliche Inflation von um die 100 Prozent hatte der seit 24 Jahren regierende Assad im vergangenen Jahr die Gehälter im öffentlichen Sektor verdoppelt, allerdings auch Mineralölsubventionen gestrichen, weil das Geld dafür im Staatshaushalt fehlte. Auch der Mindestlohn stieg. Doch der reichte nach Daten des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen gerade einmal aus, um ein Drittel der Lebensmittelkäufe für eine fünfköpfige Familie in einem Monat zu bezahlen. Mehr als die Hälfte der Leute sind arbeitslos. Die Folgen sind Verschuldung und Kinderarbeit.
Das Internationale Rettungskomitee, eine NGO, die im Norden Syriens arbeitet, berichtete im Frühjahr über eine Umfrage unter 3000 Geflüchteten. Demnach waren 85 Prozent verschuldet, jeder Neunte gab an, seine Schulden nicht begleichen zu können, zwei von drei kauften Lebensmittel auf Kredit, Kinderarbeit nehme zu. Laut Weltbank waren 2022 bereits 69 Prozent der Syrer „arm“, jeder Vierte von ihnen „extrem arm“, weil er mit umgerechnet weniger als 1,90 Dollar am Tag zurande kommen musste. Das habe es vor dem Krieg praktisch nicht gegeben.
Vor dem Krieg war Syrien ein Wirtschaftsakteur mit Ambitionen. Die Öl- und Gasproduktion florierte, auch die Chemie- und Landwirtschaft mit Baumwolle, Tabak, Ölen, Getreide. Heute muss Weizen importiert werden. Die Ukraine bot Hilfe an, falls Russland, die Schutzmacht des nach Moskau geflohenen Assad, sich auch hier zurückziehen werde.
Die Syrer wünschen sich eine Rücknahme der Sanktionen
Es sind nicht nur die Folgen kriegerischer Zerstörungen, die die Wirtschaftsaktivitäten begrenzt und die Regierung geschwächt haben. Die Einnahmen aus dem Ölgeschäft gingen dem Regime schnell verloren, da es bald nach Kriegsbeginn keinen Zugriff mehr auf die unter kurdischer Führung stehenden Provinzen im Nordosten des Landes bekam. Die Wirtschaftsagentur „Germany Trade & Invest“ beziffert die wenn auch schrumpfende Tagesproduktion 2023 auf immer noch 40.000 Fass zu je 159 Liter.
Umfassende Sanktionen der Vereinten Nationen gegen die syrische Führung lassen den Handel insgesamt schrumpfen. Während Syrien 2010 noch Waren für 17,6 Milliarden Dollar importierte, blieb davon im vergangenen Jahr mit 4,4 Milliarden etwa ein Viertel, die Ausfuhr machte mit 1,4 Milliarden Dollar nur noch ein Achtel ihres früheren Wertes aus. Das Deutschland-Geschäft hat gar nur noch den Umsatz eines mittelgroßen Betriebs. Die Einfuhr nach Deutschland ist mit noch 13,8 Millionen Dollar praktisch verdampft, von einst 1,4 Milliarden Dollar ist gerade mal ein Prozent geblieben. Die Ausfuhr traf es nicht ganz so hart, von ihr blieben sechs Prozent, 45 Millionen.
Eine Rücknahme der Sanktionen steht deshalb auch oben auf der Wunschliste der Syrer. Jenifer Fenton, Sprecherin des UN-Sondergesandten für Syrien, sagt: „Es wird hoffentlich zu einem schnellen Ende der Sanktionen kommen, damit wir eine Rally für den Wiederaufbau Syriens starten können.“ Allein auf die internationale Gemeinschaft zu setzen wäre illusorisch. Schon bisher reicht das den Vereinten Nationen zugestandene Geld für Syrien nicht. Statt der benötigten vier Milliarden Dollar stünden nur 1,3 Milliarden Dollar zu Verfügung. Ein Problem indes bleibt, dass manche der am Sturz Assads Beteiligten als islamistische Terroristen gelten. Die internationale Hilfe für den Wiederaufbau soll kein Förderprogramm für Islamisten werden.
Die USA und die EU schicken Diplomaten nach Damaskus
Viele wollen sich erst einmal selbst ein Bild machen von Abu Muhammad al-Golani, dem Anführer der Islamistenallianz „Hay’at Tahrir al-Scham“ (HTS), unter dessen Leitung Assad verjagt wurde. Die USA und auch die EU schicken dafür Diplomaten nach Damaskus. In seinem Herrschaftsbereich in Idlib, an der Grenze zur und unter Kontrolle der Türkei, soll er ein zwar autoritäres, aber funktionierendes Gemeinwesen samt Steuererhebung zu dessen Finanzierung aufgebaut haben.
Neben jeder Olivenpresse stehe ein Steuerbeamter und ziehe fünf Prozent der Pressung als Steuer ein, weiß die „New York Times“. Al-Golanis Truppe kassiere Grenzübergangsgelder und Abgaben auf alle Arten von Produkten aus der Land- und Bauwirtschaft, in Handel und Handwerk. Zudem habe sie das Monopol auf die Versorgung mit Kraftstoff, Strom, Wasser und Müllabfuhr. Gegen private Konkurrenz beim Betrieb von Mobilfunkmasten habe sie allerdings nichts einzuwenden gehabt.
Bis sich das Bild der neuen Herrscher in Damaskus in den Köpfen westlicher Diplomaten gefestigt hat, könnten zunächst die reichen arabischen Öl- und Gasförderstaaten aus der Nachbarschaft einspringen, mit kurzfristigen Hilfen wie auch mit langfristigen Investitionen. Die Hoffnung hatte schon Assad gehabt, doch hatte seine Wiederaufnahme in die Arabische Liga nicht dazu geführt. Experten sehen das im Zusammenhang damit, dass Assad seine „Überschwemmung“ Arabiens mit Fenetyllin nicht eingedämmt hat. Die Aufputschdroge habe man vor zehn Jahren in der Region noch gar nicht gekannt.
Die US-Zeitschrift „Foreign Affairs“ zitierte unlängst einen Thinktank in Washington, wonach das Assad-Regime im Jahr 2021 bis zu 5,7 Milliarden Dollar mit dem Verkauf des unter dem Handelsnamen Captagon bekannten Mittels eingespielt habe. Jordanien, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate versuchen lange schon, den Handel einzudämmen. Jordanien habe Dutzende von Schmugglern getötet und Luftangriffe gegen Händler und Lager geflogen. Die Emirate hätten bei nur einer Razzia im September 2023 Captagon im Wert von mehr als einer Milliarde Dollar beschlagnahmt. Auch die siegreichen syrischen Rebellen beschlagnahmen dieser Tage große Drogenbestände. Ob sie von dem lukrativen Geschäft die Finger lassen werden, bleibt abzuwarten.
Geschäfte und Unternehmen wurden angewiesen zu öffnen
Captagon war ein wichtige, aber nicht die einzige Finanzquelle für Assads Familie und enge Freunde. Über die Jahre haben sie sich weitere Teile früherer Staats- und Privatbetriebe einverleibt, was auch zu Streit im Familienclan selbst führte. So berichtetet die renommierte Nachrichtenseite „Syria-Report“, dass dem Präsidentenpaar persönlich Anteile an den Mobilfunkbetreibern Syriatel und MTN Syria gehörten. Ein kleiner Kreis ihrer Vertrauten besitze zudem Anteile an einer Vielzahl von Unternehmen. Dazu gehörten Banken, Immobilien, Handelsgesellschaften sowie Verkehrs- und Logistikfirmen bis hin zum Flughafen Damaskus. „Diese Vermögenswerte könnten eingefroren und dann von einer künftigen Regierung konfisziert und schließlich verkauft werden.“
Einstweilen sind die staatlichen Stellen damit befasst, das tägliche Leben in Gang zu halten. Geschäfte und Unternehmen wurden angewiesen zu öffnen, die Sicherheit auf den Märkten wurde versprochen, Preisbeschränkungen ausgesetzt, Importeuren angekündigt, konfiszierte Devisen auszuzahlen. Auch soll die Abfertigung syrischer Waren in den Häfen „kundenfreundlicher“ werden.
Unternehmer und Wirtschaftsfunktionäre versicherten den neuen Machthabern ihre Unterstützung. Ein prominenter Geschäftsmann und Vorstand der Handelskammer Damaskus sagte „Syria-Report“, es sei gut, dass Assad weg sei und die Gefängnisstrafen für Dollarhändler nun auch ein Ende hätten. Die Zentralbank versicherte, die Einlagen seien sicher, und widersprach Gerüchten, die alten Geldnoten würden durch neue ersetzt. Die Scheine zeigen das Konterfei des nach Moskau Getürmten Baschar al-Assad. Er wird die Syrer also wohl noch einige Zeit begleiten. Doch seinen Schrecken hat er verloren.