Die Wut vieler Israelis auf ihre Regierung wächst. Tausende haben am Samstag im ganzen Land demonstriert und die Rettung der mehr als 230 Geiseln gefordert. „Bringt sie endlich nach Hause!“, riefen Demonstranten auf einem Marsch durch die Innenstadt von Tel Aviv. Und: „Diese Regierung hat versagt. Netanjahu muss zurücktreten!“ Auf Schildern trugen sie auch ihren Protest gegen den Krieg durch die Straßen. „Es gibt keine militärische Lösung“, war auf einem der Plakate zu lesen, auf einem anderen: „Israelis für eine Waffenruhe“.
Auf dem Platz vor dem Kunstmuseum versammelten sich die Massen, um den Angehörigen der Geiseln zuzuhören. „Das Leben der Geiseln ist keine militärische oder strategische Frage“, rief ein Angehöriger der Familie Dan, die aus dem Kibbuz Nir Oz entführt wurde. „Ihr könnt uns nicht sagen: ‚Vertraut uns‘, denn dieser Satz ist seit dem 7. Oktober bedeutungslos.“
Auch die Tochter der verschleppten Haim Perry richtete sich in ihrer Rede direkt an die Regierung: „Erzählt mir nichts von Eroberungen oder davon, wie ihr den Gazastreifen plattmacht. Erzählt mir nichts von einem Preis, der zu zahlen ist. Wir haben den Preis schon am 7. Oktober gezahlt. Jetzt müsst ihr einen Preis zahlen, um die Geiseln nach Hause bringen!“
Auch Noam Alon, der seit über einem Monat verzweifelt auf seine Freundin Inbar Haimat wartet, denkt so. „Das vorrangige Ziel der Regierung sollte es sein, die Geiseln zurückzubringen. Das ist viel wichtiger, als die Hamas zu zerstören“, sagt der junge Mann abseits vom Gedränge. Seit Wochen harrt er auf dem Platz am Kunstmuseum aus, schläft gemeinsam mit anderen Familienangehörigen in Zelten und gibt rund um die Uhr Interviews. „Ich tue alles, was ich kann, aber ich habe das Gefühl, dass es nicht genug ist“, sagt er tonlos. „Denn sonst wäre Inbar ja schon wieder da.“
„Wir können gar nicht gewinnen“
Die Familien sorgen sich mit jedem Tag verzweifelter um das Leben und die Gesundheit ihrer Liebsten, aber auch um die nachlassende internationale Aufmerksamkeit. Mit jedem weiteren Schreckensbild aus Gaza scheint die Erinnerung an die Massaker vom 7. Oktober zu verblassen. In Israel aber gibt es kein anderes Thema. Das ganze Land bangt um das Schicksal der 239 entführten Väter, Mütter, Großeltern, Kinder und Babys. Schon bei Gilad Schalit war das so, jenem Soldaten, der fünf Jahre in Gefangenschaft der Hamas lebte und 2011 gegen mehr als 1000 palästinensische Gefangene ausgetauscht wurde. Er war nur einer. Wie könnte wohl ein Deal für 239 Geiseln aussehen?
Es gibt seit Tagen immer wieder Gerüchte über die Freilassung einiger Geiseln. Mal ist von zwei, mal von hundert die Rede. Am Freitag hatte der „Palästinensische Islamische Dschihad“ ein Video von einem kleinen Jungen und einer älteren Dame veröffentlicht und behauptet, er würde die beiden Geiseln „aus humanitären Gründen“ freilassen. Die 77 Jahre alte Hanna Katzir ist auf Medikamente und eine Gehhilfe angewiesen, der 12 Jahre alte Yagil Yaakov hat eine lebensbedrohliche Allergie. In dem Video schimpfen die beiden auf die israelische Regierung und preisen den „Palästinensischen Islamischen Dschihad“ und ihre angeblich gute Behandlung in der Gefangenschaft. Doch auf die Ankündigung folgte nichts. Und so ist auch dieses Video wohl nur ein weiteres Beispiel für den Psychoterror, mit dem die Islamisten im Gazastreifen Krieg gegen Israel führen.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bezeichnete die Rückkehr der 239 Geiseln am Samstagabend wieder als „Hauptziel des Krieges“. Deshalb sei seine Ansage klar: „Es gibt keine Waffenruhe ohne Freilassung der Geiseln.“ Doch viele Angehörige der Verschleppten fordern genau das: eine Waffenruhe und Verhandlungen mit der Hamas. „Gebt ihnen alle palästinensischen Häftlinge, gebt ihnen Treibstoff, macht eine Feuerpause – gebt ihnen alles, was sie wollen!“, ruft der 24 Jahre alte Alon verzweifelt. Für ihn und viele andere Familien ist „kein Preis zu hoch“, um ihre Liebsten lebend und gesund wiederzusehen.
Natürlich will auch Alon, dass die Hamas bekämpft wird, damit sich das Grauen des 7. Oktober nie wiederholt. Aber zuerst müsse es einen politischen Deal geben. „Das sind sie uns schuldig, denn der Staat hat am 7. Oktober kläglich dabei versagt, seine Bürger zu schützen“, sagt er. Kein Krieg könne das wiedergutmachen. Kein militärischer Erfolg könne die 1200 Toten zurückbringen. Er schaut auf das Plakat, das seine Freundin Inbar zeigt, wie sie in die Kamera lacht, damals, in einer anderen Zeit. „Wir können gar nicht gewinnen“, sagt Alon und blickt zu Boden, „denn wir haben schon verloren.“