Aus ein paar Dutzend Meter Entfernung sieht man schon das Loch, das in der rechten oberen Ecke des Hauses klafft. Rußspuren ziehen sich an der Fassade entlang, und auch sonst gibt es rund um das vierstöckige Gebäude noch Anzeichen des Raketeneinschlags: Auf dem Parkplatz stehen Autos mit zersplitterten Windschutzscheiben, der Gehsteig vor dem Hauseingang ist mit kleinen Einschlaglöchern übersät.
Die Rakete war am Tag zuvor in dem Wohnhaus in Kiryat Ata eingeschlagen, einem Vorort der Großstadt Haifa im Norden Israels. Sie habe einen Baum vor dem Gebäude getroffen, berichtet Avraham, ein älterer Mann in Schutzweste, der die Aufräumarbeiten überwacht. Ein Teil habe sich gelöst und die Wohnung zerstört. Die Bewohnerin sei nur leicht verwundet worden, sagt Avraham – „ein Wunder“.
Diejenigen Bewohner der weiter nördlich gelegenen Grenzregion, die nicht längst geflohen sind, sind solche Vorfälle inzwischen gewohnt: Seit dem 8. Oktober 2023 stehen sie unter dem Beschuss der Hizbullah. Um das zu ändern, hat die israelische Armee vor einem Monat eine Offensive gegen die Schiitenmiliz begonnen – mit massiven Luftangriffen und Bodentruppen in Libanon.
Die heftigen Schläge haben die Hizbullah deutlich geschwächt. Dennoch war sie in der Lage, ihren Beschuss zu intensivieren und sogar auszuweiten: Der ganze Norden Israels, nicht mehr nur die Grenzregion, ist jetzt von Raketen und Drohnen bedroht.
In den Radionachrichten wurde am Dienstagmorgen aufgezählt, wo es überall in den Stunden zuvor Raketenalarm gegeben hatte: in den Golanhöhen, im westlichen Galiläa, in Haifa und weiter südlich an der Küste, im Großraum Tel Aviv – und sogar im Westjordanland. Rund zwei Dutzend Geschosse waren bis zum Vormittag aus Libanon abgefeuert worden. Im laufenden Monat ist im nördlichen Distrikt mehr als 10.000-mal Alarm ausgelöst worden – schon jetzt eine Steigerung von rund 1700 Prozent gegenüber dem gesamten Oktober 2023, dem ersten Kriegsmonat.
Assaf reist den Kriegsschäden hinterher
Die meisten Geschosse fängt Israels Raketenabwehr ab, oder sie gehen in unbewohntem Gebiet nieder. Aber der „Iron Dome“ bietet keinen hundertprozentigen Schutz. Immer wieder gibt es Treffer. Und auch herabfallende Raketenteile stellen eine Gefahr dar.
In Kiryat Ata sind sie weitgehend mit dem Schrecken davongekommen. Die meisten Trümmer sind schon beseitigt. Handwerker haben sich daran gemacht, Schäden auszubessern. Ein junger Mann namens Assaf, der für die zuständige Versorgungsfirma arbeitet, läuft herum und protokolliert, wo Wasser und Strom ausgefallen sind.
Die Bewohnerin eines Nachbarhauses nutzt die Gelegenheit, ihm von ihrem Fenster im zweiten Stock herab ausführlich ihr Leid zu klagen, lautstark und mit schwerem russischem Akzent. Diese Gegend ist nicht der wohlhabendste Teil der 60.000-Einwohner-Stadt. Assaf hört sich die Suada geduldig an. Dann macht er sich auf den Weg zum nächsten betroffenen Ort. Er reist den Kriegsschäden hinterher.
Kurz darauf kommt die Bewohnerin der zerstörten Wohnung aus dem Krankenhaus zurück. Natalie Saliyenko ist Mitte vierzig und hat zwei kleine Hunde im Schlepptau. Sie zeigt ihre geschwollene Hand. Sie habe auf dem Balkon gesessen und Musik gehört, als der Alarm losging, erzählt Saliyenko. Dann rannte sie los, um in den Schutzraum im Erdgeschoss zu gelangen. Die zwanzig Sekunden reichten aber nicht, so blieb sie im Treppenhaus. „Dann hörte ich den Knall.“ Saliyenko sei vor Schrecken die Treppe heruntergefallen und habe sich die Hand verstaucht.
Die Raketen der Hizbullah enthielten Streumunition
In ihre Wohnung kann Saliyenko erst einmal nicht, die wurde versiegelt. Auf dem Telefon zeigt sie Bilder der verwüsteten Räume. Sie solle vorerst in einem Hotel untergebracht werden, sagt die Israelin – Genaueres habe man ihr noch nicht gesagt. Sie wisse nicht, ob sie überhaupt danach in ihre Wohnung zurückkehren wolle. Gerade könne sie sich das nicht vorstellen. „Die Lage ist sehr beängstigend“, sagt Saliyenko. Allein in der vergangenen Woche habe es in Kiryat Ata knapp zehnmal Alarm gegeben.
Die israelische Regierung zeigt sich bislang entschlossen, die von der Hizbullah ausgehende Gefahr zu beseitigen. Für die Offensive gibt es im Land große Unterstützung. Gleichzeitig ist die Lage für viele Israelis dadurch zunächst schlimmer geworden. Saliyenko möchte über solche Fragen lieber nicht sprechen. Der Sicherheitsmann Avraham und sein jüngerer Kollege Lior dafür um so mehr.
Aus Lior sprudelt es geradezu heraus; ihn stört die Kritik, die es im Ausland an Israels Kriegsführung gibt. Der Israeli deutet auf die Einschlaglöcher im Bürgersteig: Die Rakete der Hizbullah habe Streumunition enthalten, um möglichst viele Menschen zu verletzen, sagt er. „Das sollte die Welt zur Kenntnis nehmen – und erst dann über Humanität reden.“ Die Palästinenser wiederum hätten alle Angebote Israels stets abgelehnt. „Sie wollen den ganzen Staat und uns im Meer ertrinken sehen.“ Man könne nicht mit einem Monster Frieden schließen.
Der Krieg macht es für palästinensische Israelis schwieriger
Der ältere Avraham spricht etwas gelassener. „Wir wollen doch nur in Frieden leben“, sagt er. Jeden Morgen im Fernsehen sähen Israelis die Bilder gefallener junger Soldaten. „Das bricht uns das Herz.“ Aber auch er sieht kein Ende der Gewaltspirale: Nach dem 7. Oktober gebe es keine Lösung für den Konflikt mehr. „Wir werden sie alle töten.“ Lior stimmt ein und verweist auf die Bibel: „Gog und Magog werden kommen. Das wird das Ende sein.“
Ein paar Kilometer östlich, in Tamra, haben sie die Schäden des jüngsten Einschlags schon beseitigt. Die Wand in dem Supermarkt, auf den kürzlich ein Raketenteil gefallen war, ist frisch gestrichen. In Tamra leben palästinensische Israelis. Ein großer Teil dieser Bevölkerungsgruppe, die rund ein Fünftel der Bewohner des Landes ausmacht, siedelt in Galiläa – und ist daher stark von dem ausgeweiteten Raketenbeschuss betroffen.
Der Krieg habe die Situation für die Minderheit insgesamt schwieriger gemacht, erläutert Bürgermeister Musa Abo Romi, während er in seinem Büro arabischen Kaffee aus einer goldfarbenen Kanne ausschenkt. Staatliche Budgets für die palästinensische Bevölkerung wurden um 15 Prozent gekürzt. Die Meinungsfreiheit wurde beschränkt – vor allem wenn es darum geht, Solidarität mit den Bewohnern des Gazastreifens auszudrücken.
Seit der Eskalation des Kriegs zwischen Israel und der Hizbullah sei es noch einmal schlimmer geworden: So habe es in der Umgebung von Tamra Raketeneinschläge gegeben, und im Ort selbst seien Raketenteile niedergegangen. Die Raketen, die aus Libanon auf Haifa abgefeuert werden, würden häufig gerade in der Gegend von Tamra vom „Iron Dome“ abgeschossen, sagt Abo Romi – „und die herabfallenden Teile können enormen Schaden anrichten“. Es habe Gebäude und Tiere getroffen, Menschen zum Glück bislang nicht.
Der Ort braucht mobile Schutzräume
Dennoch habe die Regierung die Sicherheitsstufe in der Gegend kürzlich herabgesetzt, „obwohl sich die Sicherheitslage nicht geändert hat“. Der Bürgermeister bringt dafür ein gewisses Verständnis auf – die Regierung habe die Sicherheitsbedürfnisse im Blick, wolle aber auch nicht, dass das öffentliche Leben vollständig zum Erliegen komme. So sei es jetzt möglich, die Schulen wieder zu öffnen – vorausgesetzt, es gibt genügend Schutzräume für Schüler und Lehrer. In Tamra ist das nur teilweise der Fall.
Generell, schätzt der Bürgermeister, hätten 70 Prozent der Ortsbewohner keinen eigenen Schutzraum. Auch öffentliche Schutzräume gebe es nicht, anders als in den Orten um den Gazastreifen: „Die Regierung hat das nicht gefördert, weil sie nicht erwartet hat, dass wir gefährdet sind.“ Abo Romi, der seit März im Amt ist, hat für seinen 38.000-Einwohner-Ort bei der Regierung mobile Schutzräume beantragt. Bekommen hat er fünf; in einen passen 18 Personen.
Viele palästinensische Israelis beklagen sich über Benachteiligung. Von jüdisch-israelischer Seite heißt es dann oft: Dass es in der palästinensischen Bevölkerungsgruppe so viel Armut und Kriminalität gibt, liege an Misswirtschaft und Nepotismus. Abo Romi sagt, seit der Staatsgründung gebe es Diskriminierung, vor allem bei der finanziellen Unterstützung. Zugleich sieht er auch eine Mitverantwortung: Die Palästinenser in Israel müssten sich die Frage stellen, ob sie die geringen zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht besser nutzen könnten.
Aber auch die jüdische Mehrheit sollte den Palästinensern im Land mehr Akzeptanz entgegenbringen, sagt er – und nicht den Hass auf sie kultivieren, wie manche in der Regierung es täten. Viele jüdische Israelis dienten derzeit als Reservisten in der Armee. „Wen sieht man zurzeit vor allem in Fabriken, Krankenhäusern und Apotheken? – Palästinenser aus Israel.“ Wenn dieser Krieg etwas zeige, sagt Abo Romi, dann: Israel brauche auch seine palästinensischen Bürger.