Nachts, im Dunkel seines weitläufigen Hauses, sitzt François Schaar vor dem Laptop und starrt angestrengt auf seinen Bildschirm. Was er dort sieht, erfährt man nicht, nur die Töne, die die Bilder auf dem Computer begleiten, sind zu hören: helle Stimmen, schluchzend, stöhnend, dazwischen dunklere und kehlige Laute; der Soundtrack des Sexualakts, nur seltsam gepresst, ein Klangbild am Rande der Panik, des Schreckens und der Gewalt.
Die Fensterläden sind zugeklappt, während der Anwalt die Videos anschaut, und auch im Haus der Schaars hat sich jeder in seine Ecke zurückgezogen, Astrid, die Frau, ins Ehebett, Raphaël, der Sohn, ins Jugendzimmer. Und alles schweigt.
Fast zwanzig Jahre sind vergangen, seit Daniel Auteuil in Michael Hanekes Film „Caché“ einen erfolgreichen Fernsehmoderator gespielt hat, der von den Gespenstern seiner Vergangenheit eingeholt wird. In „Ein Schweigen“, einem Film des Belgiers Joachim Lafosse, ist Auteuil nun selbst das Gespenst. Aber die Grundfigur der Geschichte ist ungefähr die gleiche: eine Familie, gut situiert, im Licht der Öffentlichkeit; dann eine Erschütterung, die von weither kommt und die Verhältnisse kippen lässt; schließlich der Zusammenbruch, die Bluttat, der Kehraus.
Nur dass die Erschütterung, die das bürgerliche Idyll der Schaars zum Einsturz bringt, nicht von außen, sondern aus dem Herzen der Familie selbst kommt. Astrid (Emmanuelle Devos) begreift es als Erstes, als sie erfährt, dass ihr Bruder nach gut dreißig Jahren ihren Ehemann endlich wegen Missbrauchs anzeigen will. Was das bedeutet, geht allmählich auch dem Zuschauer auf, der die Worte aus dem Telefon, das Astrid an ihr Ohr hält, mit den nicht gesehenen, aber gehörten Bildern im Laptop des Anwalts in Verbindung bringen. Der Letzte, der die Situation versteht, ist der siebzehnjährige Raphaël; er wacht erst auf, als die Polizei vor der Haustür steht. Dafür handelt er als Erster.
Joachim Lafosse ist vor zwölf Jahren mit einem Film über eine Frau bekannt geworden, die ihre fünf Kinder nacheinander umbringt. Aber „Unsere Kinder“, der auf einem realen Fall basierte, rückte die Mörderin nicht ins grelle Licht einer Polizeiermittlung, sondern folgte ihr in ruhigen Bildern in den Abgrund von Verzweiflung und Vereinsamung, der ihr die Tat als Ausweg erscheinen ließ. Seither hat Lafosse die Familienhöllen der Gegenwart noch in zwei weiteren Filmen erkundet – in „After Love“ (2016) in der Geschichte eines Paares, das sich getrennt hat und nun um die Kinder und das gemeinsame Haus streitet, und in „Die Ruhelosen“ in der Tragödie einer Liebe, die durch die bipolare Störung des Mannes zerstört wird.
Eine Verschiebung der Perspektive
Die Kraft, die diese Filme ausstrahlen, rührt aus der Geduld, mit der die Kamera der emotionalen Achterbahn der Figuren folgt. Denn auch der Psychiatriepatient, die Kindsmörderin, die heillos zerstrittenen Ex-Liebenden suchen ja ihr Glück. Die Humanität von Fosses Regisseursblick liegt darin, dass er diese Suche ernst nimmt.
So auch in „Ein Schweigen“. Und doch ist diesmal alles anders. Denn der Film, der wie „Unsere Kinder“ nach einer wahren Geschichte entstand, trägt ein Riesengewicht auf den Schultern, das Gewicht eines Skandals. Im Jahr 2009 versuchte der Sohn des belgischen Rechtsanwalts Victor Hissel, seinen Vater zu erstechen. Hissel hatte die Familien zweier Opfer des Sexualstraftäters und Serienmörders Marc Dutroux vertreten, ehe bekannt wurde, dass er selbst im Besitz Tausender kinderpornographischer Bilder war. Lafosse, der wie immer auch das Drehbuch zu seinem Film geschrieben hat, hätte die Geschichte aus der Sicht des Kindes erzählen können. Doch er entschloss sich zu einer Perspektivverschiebung.
„Ein Schweigen“ beginnt mit der Fahrt Astrids, der Mutter und Ehefrau, ins Kommissariat nach dem Messerangriff des Sohnes. Von da springt die Erzählung zurück zum Anfang, aber auch in den Rückblenden folgt sie durchgängig dem Blick von Emmanuelle Devos. Das Schweigen des Filmtitels ist ihres: Es bezeichnet die Omertà einer Ehe, die schon lange zur Floskel geworden ist. Einen Rest Zärtlichkeit findet Astrid in der Mutterliebe zu ihrem Sohn. So wächst Raphaël in einem Kokon der Ahnungslosigkeit heran. Aber die Bilder, die der Vater konsumiert, haben den Sohn längst erreicht. Das Messer steckt schon in seinem Auge, bevor er es gegen den Täter richtet.
Das Problem des Films liegt darin, dass er in der Perspektive der Frau keinen Halt findet. „Ein Schweigen“ ist trotz allem die Geschichte des Anwalts, auch wenn Lafosse sie nicht erzählen will. Um die Leere im Zentrum des Familienporträts zu füllen, hat er den Schauspieler vor die Kamera geholt, der diese Leere besser als jeder andere im Kino verkörpern kann: Daniel Auteuil. Sein Auftritt rettet Lafosses Film davor, in Betroffenheit zu ersticken. Statt eines Unholds spielt er einen Bürokraten, der seine Perversion zu den Akten genommen hat, um sie nachts wieder herauszuholen. Mit fast fünfundsiebzig beherrscht Auteuil die Klaviatur der Monstrosität des Banalen besser denn je. Nur zweimal war er schon so gut: als Geigenbauer neben Emmanuelle Béart in „Ein Herz im Winter“ und als von Hunden gehetzter Moderator in „Caché“. Auch Victor Hissel, sein Vorbild, war ja ein Medienstar.
Es gibt Filme, in denen andere, größere Filme stecken, die in den Spielszenen einzelner Schauspieler für kurze Augenblicke zum Vorschein kommen. Hier sind es die Auftritte von Daniel Auteuil als François Schaar. Er hätte eine wirkliche Höllenfahrt verdient gehabt. Joachim Lafosse hat sie nicht gedreht.