Die für das ZDF-Politbarometer um ihre Meinung gebetenen Menschen sollten sagen, wen sie für geeignet hielten, Kanzler zu werden. Söder landete mit 38 Prozent auf Platz eins, Wüst kam auf 33 und Merz auf 31 Prozent. Interessanter sind jedoch die Antworten auf den zweiten Teil der Frage: Wen halten Sie für „eher nicht“ geeignet? Da lag Merz mit 61 Prozent vorne, knapp gefolgt von Söder mit 58. Mit viel Abstand folgte Hendrik Wüst: Nur 36 Prozent sprachen ihm die Eignung zur Kanzlerschaft ab.
Das ist ein wichtiger Faktor. Denn Wahlen werden nicht nur gewonnen, sondern auch verloren. Parteien freuen sich, wenn die Spitzenleute der Konkurrenz angreifbar sind, leicht in ein negatives Licht gerückt werden können. Bei Merz und Söder ist das einfach für die Herausforderer. Söder hat seine Fangemeinde, aber viele Menschen halten ihn für unwählbar als Kanzler. Bei Merz ist die Gewichtung sogar noch ungünstiger.
Wüst lächelt Gegensätzliches zusammen
Anders als Merz – der bisher nur die Opposition kennt – ist Wüst seit vielen Jahren regierungserfahren. Der 2017 frisch gewählte Ministerpräsident Armin Laschet machte ihn zum Verkehrsminister. Nachdem Laschets Kanzlerkandidatur gescheitert war, wurde Wüst Ministerpräsident, im Mai 2022 gewann er die Landtagswahl klar und regiert seither mit den Grünen „geräuschlos“. So wurde es im Düsseldorfer Politikbetrieb zunächst anerkennend gesagt, mittlerweile aber wird es mit zunehmend kritischem Unterton festgestellt.
Mit Ausnahme der Schulpolitik sind die Grünen für die großen Problemfelder wie die Transformation der Wirtschaft, die Flüchtlings- oder die Verkehrspolitik zuständig. Ein wichtiges Pfund, mit dem Wüst wuchern kann, ist Innenminister Herbert Reul. Er zählte zwar lange zu den Wüst-Skeptikern, verkörpert aber wie niemand sonst den Anspruch der CDU, die Partei der inneren Sicherheit zu sein. Laut einer vor wenigen Tagen veröffentlichten Umfrage des Instituts Infratest dimap im Auftrag des WDR ist Reul – vor Wüst – der beliebteste Politiker in Nordrhein-Westfalen.
Wüst gilt vielen als moderner Wunsch-Kanzlerkandidat
Eine zentrale, ebenfalls stets in die Bundespolitik ausstrahlende Rolle im austarierten CDU-Tableau Wüsts spielt auch Karl-Josef Laumann, der Bundesvorsitzende des sozialpolitischen CDU-Flügels CDA, der in Düsseldorf Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales ist. Wüst, der ursprünglich fest eingebunden war in Junge-Union-Seilschaften, die gegen Merkels „Sozialdemokratisierung“ der Union kämpften, und später lange an der Spitze des Arbeitgeberflügels der CDU in NRW aktiv war, macht mit Ministern wie Laumann und Reul deutlich, dass er weiß, wie man die innerparteiliche Balance wahrt.
In Umfragen wird die Arbeit nordrhein-westfälischer Landesregierungen traditionell sehr kritisch bewertet. Auch Schwarz-Grün bekommt das zu spüren. In der aktuellen WDR-Erhebung stellen nur 43 Prozent der Befragten dem Kabinett Wüst ein gutes Zeugnis aus. Angenehmer sowohl für die CDU als auch die Grünen ist ein anderer Befund: Während sich der kleine Koalitionspartner im Vergleich zum Bund mit 17 Prozent stabil halten könnte, wenn eine Landtagswahl anstünde, käme die Wüst-CDU auf 38 Prozent und läge damit etwas mehr als zwei Punkte über dem Resultat vom Mai vor zwei Jahren. Die Union baut im bevölkerungsreichsten, lange von der SPD regierten Bundesland unter der Führung von Wüst also ihre Dominanz aus.
Auch deshalb gilt Wüst vielen in der CDU als moderner Wunsch-Kanzlerkandidat. Als einer, der jenseits des konservativen Spektrums mobilisieren kann, den auch Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund wählen. Dass Wüst sich in den sozialen Medien gut zu inszenieren weiß, hat ihm von der oppositionellen SPD den Titel „Insta-Ministerpräsident“ eingebracht. Geschadet hat es ihm offenkundig nicht.
Merz wird in der Union nicht infrage gestellt
Aber hat Wüst eine Chance, Kanzlerkandidat zu werden? Gegen Söder hat er die sicherlich. Der bayerische Ministerpräsident sagt nicht nur selbst, dass er nicht Kandidat der Union für die Bundestagswahl im Herbst kommenden Jahres werde. Er hat vor allem seit seinem unberechenbaren Verhalten vor der Wahl 2021, als er lange beteuerte, in Bayern bleiben zu wollen, dann doch Richtung Berlin stürmte und dabei keinerlei Rücksicht auf die Geschlossenheit der Union nahm, zu viele einflussreiche Kritiker in der CDU, als dass ein neuer Anlauf Erfolg versprechend wäre. Also heißt die Frage: Hat Wüst eine Chance gegen Merz?
Die Lage ist anders als 2021. Damals sorgte der frühzeitige Verzicht von Bundeskanzlerin Merkel auf den CDU-Vorsitz für eine heftige Nachfolgeschlacht. Wüsts Vorgänger in Düsseldorf, Armin Laschet, wurde erst im Jahr der Bundestagswahl Parteichef. Er hatte kein Bundestagsmandat und mithin keine natürlichen Truppen in der Unionsfraktion. Außerdem musste er sich neben einer erfahrenen Bundeskanzlerin behaupten, die Deutschland durch die Pandemie führte. Das war schwierig. Laschet war leicht angreifbar, was Söder nutzte.
Merz hingegen ist bereits seit zwei Jahren CDU-Chef. Er ist – vor allem wegen seiner öffentlichen Auftritte – schon oft von Parteifreunden kritisiert worden. Aber erstens hat sich die Zahl seiner provozierenden – und allen voran von Wüst zurechtgerückten – Äußerungen wie die von den „kleinen Paschas“ in den Grundschulen oder den Asylbewerbern, die angeblich die Zahnarztpraxen überfüllen, deutlich verringert. Zweitens wird er in der CDU nicht offen als Vorsitzender infrage gestellt, auch nicht als Chef der Bundestagsfraktion. Diese hatte Söder noch leicht zu seinen Gunsten gegen Laschet in Stellung bringen können. Mit Merz ist das kaum möglich.
NRW-Regierungschefs müssen auch im Bund reüssieren können
Vor diesem Hintergrund gibt es so etwas wie eine Plausibilitätsannahme in der CDU. Wenn Merz beim Parteitag am kommenden Montag mit mindestens 80 Prozent der Delegiertenstimmen im Amt bestätigt wird und die Landtagswahlen in Ostdeutschland, besonders die in Thüringen, nicht zu einem Debakel für die CDU werden, das auch den Bundesvorsitzenden beschädigt, dann spricht alles dafür, dass Merz im Herbst zum Kanzlerkandidaten gemacht wird.
Wenn nicht, wenn etwas schiefgeht für den stramm auf die siebzig zugehenden Merz, dann gibt es noch Hendrik Wüst. Zur Amtsbeschreibung eines Ministerpräsidenten des bevölkerungsreichsten Bundeslands zählt es seit jeher ohnehin, den Eindruck zu erwecken, jederzeit auch im Bund reüssieren zu können. So gut wie alle nordrhein-westfälischen Regierungschefs haben das bisher so gehalten. Über die Parteigrenzen hinweg von bisher allen Ministerpräsidenten übernommen wurde zudem der einst von Karl Arnold (CDU) formulierte Anspruch, Nordrhein-Westfalen müsse das soziale Gewissen der Republik sein.
Wüst hatte sein Düsseldorfer Amt gerade erst angetreten, und der neue Bundesvorsitzende war noch nicht gewählt, als er diesen Anspruch Anfang Dezember 2021 im Interview mit der F.A.Z. auch als Maßstab für die Oppositionsarbeit im Bund forderte: „Die CDU muss wieder das soziale Gewissen in der deutschen Parteienlandschaft sein, ganz gleich, wer der Vorsitzende ist.“ In der ARD sagte er kürzlich, er stehe für einen „klaren Kurs der Mitte“. Ein solcher halte das Land und die CDU zusammen.
Wer Kanzler werden will, muss sich etwas trauen
Das sind Hinweise darauf, wie planvoll Wüst mit seinem qua Amt erworbenen Potential als Führungsreserve Nummer eins arbeitet. Am bisher intensivsten tat er das vor einem Jahr, als er den nordrhein-westfälischen Staatspreis an die frühere Kanzlerin Merkel verlieh und einen Gastbeitrag in der F.A.Z. mit der Kernbotschaft schrieb, „Wir machen Politik mit dem Herzschlag der Mitte“, in dem er Helmut Kohl und Merkel für „eine Politik von Modernität, Mitte und Ausgleich“ lobte, den Namen Merz aber nicht einmal nannte. Durch den Beitrag und durch flankierende Interviewäußerungen entstand der Eindruck, der nordrhein-westfälische CDU-Landesvorsitzende grenze sich vom Kurs des langjährigen Merkel-Rivalen Merz ab, wolle ihm die Kanzlerkandidatur streitig machen.
Aus Wüsts Umfeld hieß es später, man verstehe die Aufregung nicht. Wüst habe sich mit dem F.A.Z.-Beitrag als Chef des mit Abstand größten CDU-Landesverbands schlicht und einfach mit einem angemessenen „Aufschlag“ in die Programmdebatte seiner Partei einbringen wollen. Allein schon, dass es keinerlei Vorwarnung an Merz gab, macht jedoch deutlich, dass Wüst – der stets so wenig wie möglich dem Zufall überlässt – nicht ausschließlich eine programmatische Positionierung im Sinn hatte.
Parteifreunde sind sich dennoch sicher: Der risikoscheue Wüst würde nur dann nach der Kandidatur greifen, wenn die Umstände nichts anderes mehr zuließen oder wenn man ihm die Kandidatur auf dem Silbertablett präsentieren würde. Auch das Amt des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten habe er im Herbst 2021 ruhig auf sich zulaufen lassen können, heißt es in der CDU. Doch wer wirklich Kanzler werden wolle, müsse bereit sein, aktiv ins Risiko zu gehen.
Das Verhältnis ist kollegial und geschäftsmäßig
Wüst hat Merz schon länger nicht mehr provoziert. So muss der CDU-Chef sich über das Drängen des zwanzig Jahre Jüngeren nicht mehr so ärgern, wie er es noch vor einigen Monaten tat. Der F.A.Z.-Gastbeitrag sei „nicht vergessen“, aber die Sache sei „ausgeräumt“, heißt es im Lager von Merz. Öffentlich gab Merz kürzlich aber auch zu, dass er „angefasst“ gewesen sei. Da schimmerte noch einmal die insgesamt seltener zu beobachtende Dünnhäutigkeit von Merz durch, wenn er kritisiert oder gar angegriffen wird.
Nach außen behaupten Merz und Wüst, sie hätten ein freundschaftliches Verhältnis. Intern ist zu hören, die beiden Männer seien nicht befreundet, ihr Verhältnis sei „gut, kollegial, geschäftsmäßig“. Sie telefonierten, wenn etwas zu besprechen sei. Enger sei Merz mit dem nordrhein-westfälischen Innenminister Reul verbunden. Mit dem früheren Bundesgesundheitsminister Jens Spahn arbeite er viel zusammen.
Auch wenn Wüst keinen Frontalangriff auf Merz zu planen scheint, verliert man in der Düsseldorfer Staatskanzlei die Umfragen keinen Moment aus den Augen. Rutschen die bundesweiten CDU-Werte mal um ein oder zwei Prozentpunkte ab, wird das genau registriert und auch nach außen getragen, gerne mit dem Hinweis, dass das die Werte einer von Merz geführten CDU seien. Das zeigt: Merz sollte nicht glauben, Wüst habe das Projekt Kanzlerschaft aufgegeben.
Für geklärt hält man die Sache in Düsseldorf jedenfalls nicht. Auf die Frage, ob er eine Kanzlerkandidatur von Merz befürworten würde, antwortete Wüst kürzlich in der ARD mit dem Lächeln eines freundlichen Wolfs, wenn entschieden worden sei, stehe man „wie ein Mann“ hinter dem Kandidaten, der es geworden sei. Anders als Söder schließt Wüst eine eigene Bewerbung nicht aus. Er sagt nur, dass er eine „große Aufgabe“ in Nordrhein-Westfalen habe, die noch nicht vorbei sei. „Alles andere klären wir, wenn’s dran ist.“ Nachdem einige Ministerpräsidenten mit CDU-Parteibuch Druck gemacht hatten, die Landtagswahlen im Osten im September abzuwarten, bevor man sich festlege, schloss sich Anfang des Jahres auch Merz dieser Forderung an. In Düsseldorf wurde das genau zur Kenntnis genommen.
Der CDU-Parteitag vom 6. bis zum 8. Mai ist nicht die größte Herausforderung für Friedrich Merz. Einen Monat vor der Europawahl wird die CDU ihrem Vorsitzenden ein passables Ergebnis bescheren, auch wenn es vielleicht nicht wieder mehr als 94 Prozent wie 2022 werden. Schwieriger wird der 1. September, wenn nicht nur Sachsen, sondern auch Thüringen wählt. Die vorige Landtagswahl in Thüringen war 2019 die Schwelle, über die die damalige CDU-Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer endgültig auf dem Weg Richtung Kanzleramt stolperte. Damals gelang es ihr nicht, die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich mithilfe der Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten zu verhindern. Merz hat die Brandmauer zur AfD so hoch gebaut, dass jede noch so kleine Bewegung der Thüringer CDU in Richtung AfD ihm um die Ohren fliegen würde.
In Berlin hält man die Thüringen-Wahl für die entscheidende Hürde für Merz.