Wie umgehen mit Musik, wenn die Welt aus den Fugen ist? Christoph Lieben-Seutter, der Intendant der Elbphilharmonie, hat das Internationale Musikfest Hamburg unter das Motto „Krieg und Frieden“ gestellt. Der Sinn des Programms wurde in einem Gesprächskonzert zwischen dem Dirigenten Alan Gilbert und dem Kulturhistoriker Jeremy Eichler deutlich. Unter dem Titel „Echo der Zeit“, Betrachtungen über „Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege“ , hat der Musikkritiker des „Boston Globe“ die Bedeutung der Musik für das kulturelle Gedächtnis und das politische Bewusstsein in Erinnerung gerufen. Beispielhaft dafür stehen Werke, die in den letzten Wochen aufgeführt wurden: Arnold Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“; die 1943 entstandene Achte Symphonie von Dmitri Schostakowitsch; die 1945 geschriebenen „Metamorphosen“ von Richard Strauss und das 1962 uraufgeführte „War Requiem“ von Benjamin Britten.
Einen ganz anderen Akzent in diesem fordernden Programm – dem einer Erinnerungskultur als Schmerzenskultur – setzen drei Aufführungen eines Werks über einen Heiligen, der, weil arm, keusch, demütig und fünffach stigmatisiert, Christus am nächsten war: „Saint François d’Assise“ von Olivier Messiaen. Eine Oper? Ein Glaubens-Mysterium! Seit der Uraufführung in Paris (1983) werden die acht „Scènes franciscaines“ als musikalisches Wunderwerk verehrt, ob ihrer szenischen Hypertrophie gefürchtet, als Manifestation von Sakral-Kitsch kritisiert, als Vorübung auf die Ewigkeit erduldet. Georges Delnon und Kent Nagano haben im letzten Jahr ihrer Ägide an der Hamburger Staatsoper damit die größte Herausforderung angenommen.
Das Libretto seines Opus summum schrieb Messiaen selbst: auf Grundlage der Biographie des Heiligen von Tommaso Francesco und gesammelter Legenden „I Fioretti di San Francesco“. Eine szenische Handlung gibt es nicht, nur einen rituellen Vorgang, in dem „die fortschreitenden Stadien der Gnade in der Seele“ (Messiaen) eines Heiligen zelebriert werden. Für den in sieben der acht Szenen präsenten Protagonisten ist es wohl die längste Partie des Baritonfachs. Der südafrikanische Bariton Jacques Imbrailo fand für das Verkündigungs-Predigen den Ton inneren Drängens und wahrte zugleich das Pathos der Distanz – eine grandiose Darstellung.
Drei solistische Ondes Martenot (Schwebungs-Summer) lassen die Stimmen der Vögel erklingen, in denen Messiaen „die größten Künstler“ sah. Deren Stimmen überlagern sich im „Petit concert d’oiseaux“ und dann im „Grand concert d’oiseaux“ in irisierend verwirrenden Schichtungen. An die 700 Stimmen der ganzen Vogelschar hat der komponierende Ornithologe überall in der Welt aufgezeichnet. Das „organisierte Durcheinander“ – Messiaens Euphemismus für das Geist und Seele verwirrende tönende Chaos – hielt Seiji Ozawa, der Dirigent der Paris Uraufführung, zunächst für unaufführbar. Als Assistent Ozawas verbrachte Nagano zur Vorbereitung ein Jahr beim Komponisten, um die 70 Notensysteme der Partitur zu studieren.
Die Aufführung in der Elbphilharmonie wurde zum vielleicht größten Erfolg seiner zuletzt disharmonischen Zeit in Hamburg, gar zum Befreiungsschlag Naganos als Operndirigent. Das Orchester war auf die maßlosen Herausforderungen der Partitur glänzend vorbereitet. Das besondere Charakteristikum des Raumklangs, die früher oft kritisierte Trennschärfe, sorgte selbst dieses Mal für exzellente Durchhörbarkeit. Ein Paradox nur: dass die exzessiven Ballungen des finalen Alleluja zur Tortur der Ohren wurde. Unaufgelöst blieb das im Ritual des Werks liegende Dilemma: sein Glaubens-Dogmatismus. Die Begegnung mit einem Aussätzigen, der durch den Liebeskuss geheilt wird, oder das Nacherleiden der Stigmatisierung als Ausdruck von Gottesliebe gehören zu den Zumutungen, denen Messiaen seine Hörer aussetzt. Zu erfassen oder auch zu ertragen sind diese Szenen wohl nur durch ein „implizites Hören“.
Bei der semi-szenischen Einrichtung geht Hamburgs Opernchef Georges Delnon allerdings den Weg der expliziten Aktualisierung. Der Heilige ist ein Weltverbesserer: als „Geistlicher, Umweltschützer, Sterbebegleiter, Jugendlicher, Wissenschaftler, Musiker, Obdachloser oder Helfender“ ein Franziskus Novus. Er betritt über einen von der Rückseite des Saals bis auf die Bühne gebauten Steg – die Leiter zum Himmel? – seine „Kanzel“ über dem Orchester. Das „musikalische Geschehen“ wird auf einem LED-Ring unter der Kuppel in Art von Parallel-Aktion vorgeführt: mit Filmen über das Elend des Alltags wie soziale Nöte; über die Rettung von Menschenleben durch das Seenotrettungsschiff Sea Watch 5; über die Arbeit des Klimaschützers Mojib Latif oder die palliative Betreuung von Sterbenden im Hospiz des Hamburger Helenenstift.
Nur wenn zur der Rettung von Migranten, wie oben auf dem LED-Schirm zu sehen, unten im Saal ein schwarzes Kind auf die Bühne unter das Pult des Dirigenten klettert und einen leuchtenden Globus umarmt; wenn therapeutische und palliative Betreuung in einem Hospiz den musiksymbolistischen Vorgang der Stigmatisierung – mit Summchor, Schreikrächzen des Waldkauzes, Clustern – illustrieren; wenn in der Szene mit dem musizierenden Engel, von Anna Prohaska seraphisch gesungen, von den Toten Auferstandene durch den Saal geistern, dann fallen Sakralkitsch und Sozialkitsch in eins. Der Jubel des Dankes ist fast so laut wie das Alleluja.
Der Gipfel der Zumutung aber: Ein Kind-Engel, der während des finalen Chores noch durch den Saal rannte, ist auf dem LED-Schirm zu sehen, wie auf einer Himmelsleiter die Treppen hinauf aufs Dach der Elbphilharmonie stürmend. Es ist die neunte „Scène franciscaine“. Hamburgs Wahrzeichen erscheint als Ort der Erlösung wie im Gesang des Engels: „du wirst die Musik des Unsichtbaren hören, und du wirst sie in alle Ewigkeit hören.“