Die Erinnerung soll ja, wenn Jean Paul recht hat, das einzige Paradies sein, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Sie kann für manche allerdings auch die Hölle sein. Oder ein Trugbild, weil es gar nicht so war, wie es sich jemand vorstellt. Weil einer, der auch dabei war, alles ganz anders gesehen hat. Und selbst wenn etwas in Bildern dokumentiert ist, hängt alles von dem Blickwinkel der Aufnahme ab.
Vier Menschen, die zur selben Zeit am selben Ort waren, können in vier verschiedenen Versionen davon erzählen, ohne dass sich am Ende feststellen ließe, wer die Wahrheit gesagt hat. Oder ob es überhaupt eine Wahrheit gibt.
Dieses Phänomen wird gerne der „Rashomon-Effekt“ genannt, nach dem großen Film von Akira Kurosawa aus dem Jahr 1950, der seine Geschichte aus vier Perspektiven erzählt. Dieses Verfahren hat seither viele gereizt, Variationen finden sich bei Gus Van Sant („Elephant“) oder Brian De Palma („Snake Eyes“), in Bryan Singers „The Usual Suspects“, Quentin Tarantinos „Reservoir Dogs“ und jetzt bei Hirokazu Kore-eda in seinem neuen Film „Die Unschuld“.
Unfreiwillig belegen auch die deutschen Titel von Kore-edas-Filmen, dass jeder etwas anderes sieht. Übersetzte man den Originaltitel wörtlich, müsste der Film „Monster“ heißen, was auch sein internationaler Titel ist. Bei „La Vérité“ (2019), dem ersten Film, den Kore-eda außerhalb Japans drehte, mit Catherine Deneuve, Juliette Binoche und Ethan Hawke, klebte man ein verkrampftes „Leben und lügen lassen“ an das Original.
Und der Cannes-Sieger von 2018, „Manbiki Kazoku“, wörtlich: „Shoplifting Family“, wurde zu „Shoplifters – Familienbande“. Das immerhin bezeichnet etwas: dass Kore-eda in seinen Filmen von Familienaufstellungen erzählt, von Verhältnissen zwischen Menschen, die nicht blutsverwandt sein müssen, die ein Patchwork bilden können, Konstellationen, für die es keine eindeutigen soziologischen Begriffe gibt. Wer kann mit wem eine Gemeinschaft bilden, welche Kräfte erhalten, welche zerstören sie? – Darum geht es in Kore-edas Filmen. Auch in „Monster“ bleibt eine offene Frage am Ende: wen der Titel meint. „Wer ist das Monster?“, singen die Kinder im Film. Sind es die Kinder, die Eltern, die Lehrer?
Am Anfang brennt ein Hochhaus. Minato und seine Mutter schauen vom Balkon aus zu. Die Mutter sieht so jung aus, als sei sie die ältere Schwester. Sie ist alleinerziehend, der Mann ist verstorben, an seinem Geburtstag essen sie eine Torte. Minato hat ein blutiges Ohr. Er hat Probleme in der Schule. Aber er schweigt. Wird er gemobbt?
Familien und andere Gemeinschaften
Die Mutter ist couragiert. Sie stellt die Direktorin zur Rede; nicht nur ein Lehrer, Herr Hori, mehrere müssen sich entschuldigen. Vier Männer und eine Frau neigen die Köpfe. Sie reden dabei wie Roboter. Minatos Mutter gerät in Wut. Sie schreit die Direktorin an, sie bezichtigt Hori, in einem schmierigen Klub in dem abgebrannten Haus verkehrt zu haben. Sie sucht einen Mitschüler auf, den ihr Sohn angeblich gemobbt haben soll. Es gibt eine weitere bizarre Entschuldigungsinszenierung.
Dann geht alles wieder von vorne los. Das Hochhaus brennt, die Feuerwehr kommt. Nun flüchtet Herr Hori mit seiner Freundin. Er macht keine gute Figur, wie er da immer in einer Art Trainingsanzug herumläuft. Er hat keine Autorität. Die Schule drängt ihn: Es gehe nicht um das, was passiert ist, sondern um die Außenwirkung.
Sagt die Direktorin, deren Mann den Enkel beim Rückwärtseinparken überfahren haben soll. Oder war es die Direktorin selbst? Dieser zweite Blick, und das ist ein großer Unterschied zu „Rashomon“, stellt zwar Hori ins Zentrum, erzählt aber nicht allein aus seiner Sicht. Es entsteht auch ein anderes Bild von Minato. Und Kore-eda weiß mit den Ellipsen souverän umzugehen, die eine solche Erzählweise verlangt. Er zeigt, was man wissen muss, um eine Szene neu zu sehen, aber er zeigt auch nicht alles, was man gerne wüsste.
Wann ist das Bild komplett?
Dann brennt wieder das Hochhaus, die Feuerwehrsirenen heulen, man sieht die namenlose Stadt am See. Es kommen ein paar erhellende Steine des Puzzles hinzu – wenn es denn überhaupt ein Puzzle ist, was ja voraussetzte, dass am Ende ein komplettes Bild vor uns läge. Es geht jetzt um eine Freundschaft, zwischen Minato und Yori, dem Jungen, den er angeblich gemobbt haben soll. Da sind das Leid und die Qual, wenn zwei Kinder Freunde sein möchten, aber es nur heimlich sein können, weil der eine ausgegrenzt wird und dem anderen dasselbe widerführe, wenn er für den Ausgeschlossenen einträte
Dass die beiden in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon in einem Waldstück ihre kleine Idylle finden, mag ein bisschen zu ausgedacht wirken; auch dass dieser Waggon zur Falle wird, als ein schwerer Sturm und Regen am Ende mit dem Feuer des Anfangs kontrastieren. Aber der Film macht sich in diesem letzten Teil frei von den Zwängen, einen Brandstifter, eine gerichtstaugliche Version des Geschehens liefern zu müssen.
Die Farben werden heller, das Grün der Wiesen leuchtet, es ist eine große Leichtigkeit und Unbeschwertheit in den Bewegungen der Kinder. Da ist keine Auflösung nötig. Auch keine Entscheidung, welche Version die richtige ist. Es braucht einfach einen freien Blick.